Aus dem humanistischen Gesprächskreis (HGK) Worms

Im zurückliegenden Jahr 2017 fanden in Deutschland die Feierlichkeiten ihren Höhepunkt, mit denen die Protestanten zehn Jahre lang die Reformation und dabei auch Martin Luther hochleben ließen. Das Reformationsjubiläum und die Art, wie es begangen wurde, sollen differenziert-kritisch betrachtet werden.

Verschiedene protestantische Theologen hoben in den letzten Jahren, sachlich vollkommen zu Recht, hervor, dass Luther in seiner Theologie die individuelle Beschäftigung mit dem christlichen Glauben propagiert hat. Er hat sich zudem im Ablassstreit gegen die damalige sog. „Amtskirche“ in Rom erhoben. Luther hat sich von seinem Anliegen auch nicht durch Bestechungsversuche (1521 vom Trierer Bischof) von seinem Weg abbringen lassen. Er hat vielmehr gegenüber der damaligen Amtskirche den unmittelbaren Zugang jedes einzelnen Christgläubigen zum Christengott vertreten. Luthers „sol? grati?“, wonach der Mensch „allein von Gottes Gnade“ abhänge und keiner vermittelnden Instanz bedürfe, aber auch sein „sol? fide“ („allein durch Glauben“) drückten dies unmittelbar aus. Luther hat damals jeden einzelnen Menschen dazu aufgefordert gesehen, die ihn umtreibende Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, selbst zu beantworten, worin ein unmittelbarer Bezug zu seiner Lehre vom „Priestertum aller Gläubigen“ hergestellt werden kann.

Doch die starke Ausrichtung des Reformationsjubiläums auf Luther ist problembehaftet. Seine existentielle Frage von damals ist für viele Menschen heute überhaupt keine existentielle Frage mehr. Seine Frage nach einem „gnädigen Gott“ stellen sich heute immer weniger Menschen; viele stellen sich diese Frage gar nicht. Ursache dafür ist die tiefe kulturell-weltanschauliche Kluft zwischen dem Zeitalter der Reformation und heute. Denn es liegen zwischen der Weltanschauung der Reformatoren und der heutiger Menschen eben nicht nur einfach 500 Jahre. Die geistesgeschichtliche Situation heute ist nun mal ganz anders als zur Zeit der Reformation. Es liegen zwischen der Reformation und heute geistesgeschichtlich betrachtet eminent wichtige Ereignisse wie die Französische Revolution mit der Erklärung der Menschenrechte und auch die Bewegung der Aufklärung mit ihren vielen grundlegenden Auswirkungen. Der Präsident des letzten (18.) Bundestages, Norbert Lammert, drückte diesen Sachverhalt so aus:

„Zu den Ergebnissen unserer aufgeklärten Zivilisation gehört die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage“.

Die „Wahrheitsfrage“ (Lammert) war aber für Luther nie eine Frage im eigentlichen Sinn; sie war für ihn nie eine offene Frage; sie war für Luther im Vorhinein beantwortet. Dies bedeutet nun allerdings für das Reformationsjubiläum: Luther hat den vielen Menschen in Deutschland, die Lammerts Sicht (s. obiges Zitat) grundsätzlich zustimmen, die also die kulturell-weltanschauliche Kluft zwischen Reformation und heute sehen, sie berücksichtigen, aber die Wahrheitsfrage weiterhin als existentielle Frage empfinden und stellen, heute im Grunde so gut wie nichts mehr bzw. gar nichts mehr zu sagen. Im Reformationsjubiläum jedoch sind viele Protestanten dessen ungeachtet dieser Frage, was uns Luther heute noch zu sagen hätte, nachgegangen. Die Protestanten sprachen dabei oft nur zu und mit Gleichgesinnten; was zeigt, dass das Reformationsjubiläum vielfach nur in ideengeschichtlichen Echoräumen stattfand und die o. g. weltanschauliche Kluft einfach ausblendete.

Und schließlich begingen die evangelischen Kirchen, gemäß eigener Diktion und Zielsetzung, von 2008 bis 2017 die sog. „Lutherdekade“, feierten also in ihrem Reformationsjubiläum Luther mit, – und dies, obwohl Luther sich an seinem Lebensende voll Hass und Niedertracht über Juden geäußert hat. So hat Luther bei der Frage, wie Christen mit Juden umgehen sollen, 1543 schriftlich dazu aufgerufen, „dass man ihre Synagogen oder Schulen anzünden“ solle. Dazu schrieb 1958 der deutsche Philosoph Karl Jaspers: „Was Hitler getan, hat Luther geraten.“ Wir können anstelle einer (älteren) Fremd-Bewertung aber auch selbst einen aktuellen Vergleich ziehen: Anfang Januar 2018 hat die AfD-Politikerin Beatrice von Storch Flüchtlinge in Deutschland als „barbarische, muslimische, gruppenvergewaltigende Männerhorden“ bezeichnet. Ihre unsägliche bzw. „abfällige Äußerung“ (FAZ) erscheint im Vergleich zu Luthers Äußerung über Juden als geradezu – harmlos. Dennoch gingen zu Jahresbeginn 2018 gegen Storchs Äußerungen über hundert Anzeigen wegen des Verdachts auf Volkverhetzung bei der Staatsanwaltschaft Köln ein – u. a. von der Kölner Polizei. Da drängt sich fast von alleine die Frage auf: Was würde heute wohl passieren, würde ein Judenhass, wie ihn Luther damals formuliert hat, heute so formuliert werden. Luther würde zweifelsohne heute in Deutschland für seine Äußerung angeklagt, verurteilt und eingesperrt. Dabei waren der Hass und die Niedertracht, die der alte Luther niederschrieb, bereits im jungen Luther zumindest angelegt. Den Luther der Judenschriften würde man heute als „Hassprediger“ bezeichnen.

Das bedeutet nun aber mit Blick auf das Reformationsjubiläum: die evangelischen Kirchen haben einen Volksverhetzer mit-gefeiert – und zwar wissentlich. Die evangelischen Kirchen haben im Reformationsjubiläum jedoch Luther nicht nur mitgefeiert, sondern ihn auch noch geschönt dargestellt – ein Verhalten, das an Volksverdummung grenzte.

Das Mit-Feiern Luthers im Reformationsjubiläum zeigte damit letztlich, dass die evangelischen Kirchen von dem Anspruch, kritisch-aufklärerisches Denken – was für unser Gemeinwesen sehr wichtig ist – zu befördern, auch heute noch de facto weit entfernt sind. Wir Humanisten im HVD dagegen lehnen das Feiern einzelner Menschen schon deswegen generell ab, weil Menschen immer positive und negative Seiten haben.

Nun sind seit dem Zeitalter der Reformation erfreulicherweise zahlreiche Menschen den Weg der Individualisierung der Weltanschauungsfrage, der anfangs eine Zeit lang auch Luthers Weg war, weitergegangen – und zwar bis heute. Vor diesem Hintergrund stehen aufklärerisch-kritisch und damit selbst denkende Menschen heute vor der Aufgabe, sich selbst die Fragen nach dem Wieso und dem Wozu ihres Tuns zu stellen. Auch diesen Fragen gehen wir in unserem humanistischen Gesprächskreis, der einmal pro Monat stattfindet, nach.

Bernd Werner
für den Humanistischen Verband Rheinland-Pfalz (HVD RLP), Gruppe Worms

Terminhinweis: Wer sich für eine Diskussion humanistischer, politischer oder entsprechender Themen interessiert, ist an jedem letzten Sonntag des Monats zu unserem Humanisten-Frühstück ab 10.00 Uhr in unserem Vereinshaus, der „casa humana“, in Worms, Speyerer Str. 87, herzlich eingeladen.

Im März werden wir uns am Sonntag, dem 25.03.2018 treffen.