„Polarisieren“ bedeutet bildungssprachlich spalten, trennen oder Gegensätze scha?en. In Worms kennen wir uns mit diesem Thema besonders gut aus. Unsere Stadtgesellschaft ist durchaus bekannt dafür, entweder etwas hochzujubeln oder so richtig schlecht zu finden. Aber wie funktioniert das mit dem Polarisieren und wie weit kann man gehen, bis hier in der Redaktion wieder wilde Beschwerdemails einflattern?

Liebe Leser,

zunächst möchte ich Ihnen über einen besonderen Moment als Schauspieler berichten. Derzeit bin ich, wie sie vielleicht in der letzten Kolumne gelesen haben, als Schauspieler bei den Bad Hersfelder Festspielen engagiert und wirke in „Das kleine Gespenst“ und „Der Club der toten Dichter“ mit. Hier wurde mir die Ehre zu teil, den Oscarpreisträger Tom Schulman, den Drehbuchautor des letztgenannten Stückes, der sich unbedingt unsere Version des „Clubs“ nicht entgehen lassen wollte, kennenzulernen. Wahn- sinn, jetzt habe ich nicht nur Terence Hill getroffen, sondern auch noch einen echten Academy Award Gewinner, der obendrein auch noch wahnsinnig bescheiden und nett war.

Ehrlicherweise war das aber nicht der besondere Moment, von dem ich berichten möchte. Der trug sich dieses Jahr im Kinderstück „Das kleine Gespenst“ zu. Um ehrlich zu sein, sind Kinderstücke nicht bei allen Schauspielkollegen besonders beliebt. Meistens muss man sehr früh aufstehen, da die Vorstellungen oft am frühen Vormittag sind und von vielen nicht als die große Kunst angesehen werden. Ich bin hier an- derer Meinung, denn gerade Kinder sind oft das ehrlichste Publikum, was man haben kann. Im Fall unseres Stückes gab es eine Rückmeldung, die ich Ihnen nicht vorenthalten will: Ein kleines Mädchen von neun Jahren, das vorher noch nie in einem Theater war und aus einer armutsbedrohten Familie kommt, schrieb der Festspielleitung einen Brief und bezeichnete die Vorstellung als den schönsten Tag ihres Lebens. Und da sag noch einer, Theater könnte nicht die Welt verändern…

Zurück zum eigentlichen Thema

Mein Chef bat mich, doch etwas über die diesjährigen Nibelungen-Festspiele zu schreiben. Die Hauptinszenierung war zweifelsohne ein durch und durch polarisierendes Stück. Ich hatte Glück und die zeitliche Gelegenheit, mir die Premiere anzuschauen und wurde vielfach gefragt, wie es mir denn gefällt. Kurzum: Meine Art von Theater war es dieses Jahr definitiv nicht, aber ich verstehe und respektiere es, wenn Menschen die Inszenierung großartig fanden. Kunst und vor allem Theaterkunst ist streitbar, polarisierend und berührt jeden im positiven oder negativen Sinne anders. Und ja, es ist davon aus- zugehen, dass „BRYNHILD“ in diesem Jahr mit voller Absicht die Provokation des Publikums und des Feuilletons gesucht hat. Ob die Fest- spiele hierfür die richtige Plattform sind, kann natürlich auch diskutiert und hinterfragt wer- den. Ich jedenfalls bin froh und dankbar, dass wir uns Kunstfreiheit leisten und erlauben können. Das mag abstrus klingen, da mir das Stück nicht gefallen hat, aber ich möchte auf etwas anderes hinaus. Vor gar nicht allzu langer Zeit wurde Kultur als „nicht systemrelevant“ bezeichnet und behandelt aufgrund einer pandemischen Viruswelle, deren Name uns für immer im Gedächtnis bleiben wird.

Jetzt stehen wir erneut vor einer solchen Entwicklung, auch ohne Krankheit. Inflation, Budgetkürzungen, Bürokratie und überall verschuldete Kommunen könnten in der Zukunft Kultur als nicht relevant erscheinen lassen. Ich fürchte mich jetzt schon vor der Polarisation der Menschen, die sich zwischen Theaterfestspielen und kaputten Sporthallen entscheiden müssen. Was können wir tun, um die Wichtigkeit von Theater begreiflich zu machen? Nur noch „Das Wirtshaus im Spessart“ spielen, um die Massen zu gewinnen? Viel mehr „Brynhild“, um das letzte Silberseepublikum endgültig in die Wüste zu schicken? Am Ende dürfte die Lösung im Kompromiss liegen und diesen gut zu machen, ist dann wohl die ganz hohe Kunst.

Zu guter Letzt einen „polarisierenden“ Witz, damit Sie auch mal lachen konnten:

Tre?en sich zwei Magnete.

Fragt der eine: „Was soll ich heute bloß anziehen?“

Bis nächsten Monat. Jim Walker jr.