Dass es während einer WM plötzlich 82 Millionen Experten in Deutschland gibt, die natürlich alles besser wissen als der Bundestrainer selbst, ist nichts Neues. Dass aber diesmal ganz viele Fußballfans ein ungutes Gefühl hatten und nicht so recht Euphorie aufkommen wollte, lag auch daran, dass es im Vorfeld der WM jede Menge Hinweise auf einen erfolglosen Turnierverlauf gab, für die die Fans offensichtlich eine feinere Antenne hatten als Bundestrainer Joachim Löw.
Die Diskussionen an den Stammtischen im Land beginnen spätestens dann, wenn der Nationaltrainer seinen Kader bekannt gibt. Klar, Härtefälle gibt es immer. Spieler, die zuhause bleiben müssen, obwohl viele fest mit deren WM-Teilnahme gerechnet hätten. Aber im Endeffekt hat man zumeist eine Diskussion über die Nummer 17, 18 oder 19 im Kader geführt, die ohnehin wenig Aussicht auf Einsatzzeiten hatten. Vor der WM 2018 erreichte die Diskussion aber eine völlig neue Dimension, denn Trainer Jogi Löw hatte sich überraschend dafür entschieden, mit Leroy Sane nicht nur den besten Youth Player der Premiere League zuhause zu lassen, sondern mit Sandro Wagner und Nils Petersen auch noch die beiden aktuell besten deutschen Stürmer der Bundesliga. Petersen, weil er nur beim SC Freiburg spielt, und Wagner, weil er schlichtweg unbequemer als Gomez ist. Seit Löw das Amt des Bundestrainers innehat, ist verstärkt zu beobachten, dass nicht immer die besten Spieler mitfahren, sondern diejenigen, die sich am besten unterordnen können. Bei einem wochenlangen Turnier scheint dem Trainerteam Harmonie wichtiger als Reibung zu sein. Mit Lahm, Schweini und Poldi hat das in Brasilien wunderbar funktioniert. Nur diesmal ging der Schuss nach hinten los. Den deutschen Fußballanhängern schwante also nichts Gutes bei der Kaderzusammenstellung, zumal ein Siegerteam normalerweise anders aussieht. Manuel Neuer war fast ein Jahr verletzt und meldete sich erst kurz vor Turnierbeginn fit. Jérôme Boateng verletzte sich im Meisterschaftsendspurt, kam zum Eröffnungsspiel zurück, aber war hierbei nur ein Schatten seiner selbst. Nach einer gelb-roten Karte im 2. Spiel war das Turnier auch schon wieder beendet für ihn. Hector war kurz zuvor mit dem 1. FC Köln abgestiegen und kam auch in Russland nicht so recht in Tritt. Draxler stieß mit wenig Spielpraxis bei Paris St. Germain zur Mannschaft und konnte bei seinen beiden WM-Einsätzen keinerlei Akzente setzen. Der Bayern-Block um Hummels, Kimmich, Süle, Rudy und Müller hatte zum Saisonende kollektiv geschwächelt und war gegen Stuttgart (1:4) und Frankfurt (1:3) unter die Räder gekommen. Und als wären das nicht schon genug Baustellen, posierten Özil und Gündogan für ein Foto mit „ihrem Präsidenten“ Erdo?an und sorgten damit für wochenlange öffentliche Diskussionen, die zwangsläufig auch das Team belasteten. Vor allem stand plötzlich nicht nur die Frage im Raum, inwiefern sich diese Spieler mit ihrem Land identifizieren, sondern zunehmend auch, ob sich die Leute da draußen überhaupt noch mit dem deutschen Team identifizieren.
Schlechte Vorzeichen
Dann kam das Testspiel gegen Saudi-Arabien, das man als letzte Eigenwerbung vor der WM hätte nutzen können und das mit Ach und Krach mit 2:1 gewonnen wurde. Gegen einen Gegner, der bei der WM völlig chancenlos war, spielte „Die Mannschaft“, als würde sie eine lockere Trainingseinheit absolvieren. Dass man sich als Spieler kurz vorm Abflug nicht mehr verletzten möchte und womöglich mit angezogener Handbremse spielt, ist das eine. Als man aber beim ersten Gruppenspiel gegen Mexiko immer noch das Gefühl hatte, einem Testspiel beizuwohnen, hätten intern die Alarmglocken viel lauter schrillen müssen. Zudem muss das Trainerteam des DFB die Niederlage gegen Mexiko komplett auf seine Kappe nehmen. Wenn der Trainer Mexikos nach dem Spiel erklärt, dass er die Taktik für das Deutschland-Spiel bereits ein halbes Jahr vorher ausgetüftelt hat, zeigt das, wie ausrechenbar das deutsche Spiel ist und wie schwerfällig Löw reagiert, wenn er taktisch überrumpelt wird. Vor allem aber leistete sich Löw gegen Mexiko den Luxus, mit Marco Reus einen der wenigen Hoffnungsträger des deutschen Teams zunächst auf die Bank zu setzen. Vermutlich spekulierte Löw auch darauf, dass Timo Werner das komplette Turnier als einzige Spitze durchspielt. Dabei kamen dessen Stärken gegen tief stehende Teams gar nicht zur Geltung. Gegen die kleingewachsenen Mexikaner und Südkoreaner fehlte in vorderster Front ein kopfballstarker Stoßstürmer, der die Abwehr des Gegners dauerhaft beschäftigt. Also sollte es, mangels Alternativen, als Joker doch wieder Gomez richten, der seinen Zenit aber längst überschritten hat – im Gegensatz zu einem Sandro Wagner oder Nils Petersen. obwohl auch gegen Schweden die gleichen Symptome auftraten wie im ersten Spiel, glückte ein an Dramatik kaum mehr zu überbietender 2:1-Sieg. Während sich Fußball-Deutschland kollektiv zu einem Sieg in letzter Sekunde gezittert hatte und das Ergebnis realistisch einordnen konnte, saß anschließend ein entspannter Bundestrainer beim Interview, als habe man eben einen souveränen Triumph eingefahren. Dabei hing das Ausscheiden hier schon am seidenen Faden, das aber nach dem Husarenstück von Toni Kroos in der fünften Minute der Nachspielzeit lediglich vertagt wurde. Man kann nur vermuten, dass sich Löws Überheblichkeit, die man gerne mit Selbstsicherheit gleichsetzen möchte, auch auf seine Mannschaft übertragen hat. Was sollte schon gegen Südkorea schief gehen? Dementsprechend trat das deutsche Team anschließend auf. Pomadig, ohne Schwung, ohne Tempo und mit einem nominell hochkarätig besetzten Mittelfeld, das sich an Ideenlosigkeit überbot, vor allem aber mit einer katastrophalen Körpersprache ausgestattet war. Deutschland hatte 70% Ballbesitz, aber außer Pässe ins Leere, misslungene Flanken und ewiges Ballgeschiebe rund um den Strafraum des Gegners fand kein Offensivspiel statt. Und wenn sich Torchancen boten, wurden diese leichtfertig verballert. Vor allem aber wirkte die deutsche Mannschaft behäbig, satt und präsentierte sich zu keiner Zeit als echtes Team, allenfalls als gut funktionierendes Marketingprodukt des DFB.
Ein Umbruch muss her
Dass der oft gescholtene Mesut Özil ausgerechnet bei dem einzigen deutschen Sieg gegen Schweden nur auf der Bank saß, war so etwas wie eine Genugtuung für seine Kritiker. Als Özil dann aber gegen Südkorea wieder in der Startelf stand, setzte es prompt die nächste peinliche Niederlage. Es liegt aber gewiss nicht nur an Özil, der es ja noch nicht mal geschafft hatte, dem Weltmeisterteam von 2014 seinen Stempel aufzudrücken, denn die Mannschaft in Brasilien hatte in erster Linie als Team funktioniert. Auch die Zeit der Weltmeister Müller, Khedira, Gomez und womöglich auch Hummels und Boateng scheint vorbei zu sein. Selbst Hoffnungsträger wie Kroos, Werner oder Reus erreichten nicht ihre Normalform. Michael Ballack brachte es anschließend auf den Punkt: „Mit einer schlechten Mannschaft kann man ausscheiden, aber nicht mit einer guten.“ Hier fehlte nicht das Potential, sondern die Einstellung. Kein Neuanfang, aber zumindest ein Umbruch muss her. Mit Julian Brandt, der bei dieser WM leider nur 19 Minuten lang zeigen durfte, wie Tempofußball funktioniert, Jan-Fiete Arp (HSV), Jonathan Tah (Bayer Leverkusen) oder eben Leroy Sane (Manchester City) stehen hoffnungsvolle Talente parat. Die Frage wird aber zwangsläufig auftauchen, ob Jogi Löw noch der Richtige für diesen Job ist. Zu tief sitzt der Stachel, dass der Titelverteidiger Deutschland in der vermeintlich leichtesten Gruppe der WM sang- und klanglos als Gruppenletzter ausgeschieden ist. Und noch nie war das Ausscheiden so verdient.