WO! im Gespräch mit dem aus der Ukraine geflüchteten Volodymyr Kapinus
Es ist ein wenig mehr als ein Jahr her, dass Russland die Grenze zur Ukraine überschritt und damit einen Krieg entfachte, der seitdem zahlreiche Zivilisten das Leben kostete und Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Einer davon ist Volodymyr Kapinus, der bis zum 24. Februar 2022, wie viele andere auch, ein friedliches Leben führte. Im Gespräch mit WO! erzählt er vom Überleben in einer belagerten Stadt.
Bis zu diesem schicksalshaften Tag im Februar war Mariupol eine bedeutende Hafen- und Universitätsstadt am Asowschen Meer. 440.000 Menschen lebten, liebten und arbeiteten dort. Doch dann wurde das Leben dieser Menschen binnen weniger Wochen zerstört. Einer dieser Menschen ist Volodymr, der von seinen Freunden Volodja genannt. Volodja ist ein junger Mann, 33 Jahre alt, der an einer Schule in Mariupol Sport und Geschichte unterrichte. Nebenbei gab er an der Schwimmschule seines Vaters Schwimmunterricht. Wenn er nicht sein Wissen an jüngere Generationen weitergab, traf er sich mit seinen Freunden oder kümmerte sich um seine Großeltern, die bei ihm lebten. Im Gespräch erzählt er, dass die Einwohner ahnten, dass früher oder später Russland die Ukraine angreifen wird, dennoch waren viele überrascht, als es schließlich im Februar 2022 tatsächlich passierte. Eines der ersten Ziele war Mariupol. Stück für Stück zog sich der Militärring um die Stadt zu. Schon nach kurzer Zeit war ein Entkommen aus der Stadt unmöglich. Volodja erzählt mit stockenden Worten von den ersten Tagen und erklärt: „Es ist schwer zu beobachten, wie die eigene Heimatstadt im Krieg versinkt. Zunächst brach unter der Bevölkerung Chaos aus.“ Volodja, der in einem Hochhaus im neunten Sock lebte, beobachtete vom Balkon aus, wie die Menschen begannen, Geschäfte zu plündern und jeder um sein eigenes Überleben kämpfte. Am Horizont am Rande der Stadt leuchtete indes abends der Himmel von den detonierenden Raketen, die ihr Ziel gefunden hatten. Immer wieder vergleicht Volodja das Geschehen mit Bilder aus einen Horrorfilm, doch dieser Horror ist real. Es gibt kein Abspann, der Erleichterung verschafft. Kein Entrinnen vor der russischen „Spezialoperation“, die angeblich das Volk befreien möchte. Der junge Mann fragt, sehen so Friedensbringer aus? Für Volodja ist klar, das ist nicht der Beginn einer Befreiung ist, sondern der Beginn eines Genozids.
Lachen gegen den Wahnsinn
Im Laufe der vier Monate, in denen Volodja ums Überleben kämpfte, bis ihm die Flucht gelang, schlugen vier Raketen auch in das Hochhaus ein, in dem er mit seinen Großeltern lebte. Während ihm die Flucht in das sichere Deutschland glückte, starben seine Großeltern während der Belagerung. Wie er sagt, an gebrochenen Herzen und aus Angst. Es folgte der bittere Moment, die eigenen Großeltern in einem Hinterhof zu vergraben. Der Weg zum Friedhof war zu diesem Zeitpunkt zu gefährlich, denn nicht nur die Raketen der Russen gefährdeten das Leben, sondern auch die Patrouillen der DNR, dem Sicherheitsorgan der „Donezker Volksrepublik“, oder wie Volodja sagt, Kollaborateure, also Menschen aus der eigenen Heimatstadt, die sich dafür entschieden, auf die russische Seite überzulaufen. Für Volodja war es dabei schwer mitanzusehen, wie auch Freunde die Seiten wechselten, um zu überleben. Überleben in Mariupol hieß dementsprechend, sich als Freund Russlands zu zeigen oder auf der Suche nach Lebensmitteln durch die zerbombten Straßen zu streifen. Die Straßen waren wiederum gesäumt von Gräbern. Abends saß er mit seinen Freunden gemeinsam in einer der dunklen Wohnungen. Gas, Strom und Wasser gab es schon längst nicht mehr, ebenso wenig wie einen Kontakt zur Welt außer-halb von Mariupol. An improvisierten Feuerstellen bereitete man sich karge Speisen zu und erzählte sich Geschichten aus einer besseren Zeit. Auf Fotos, die Volodja bei dem Gespräch zeigt, wirken die jungen Männer erstaunlich gelöst. Man lacht zusammen, fotografiert sich gegenseitig beim Rasieren im Kerzenschein ohne Wasser oder wie man aus einem Bollerwagen ein Skateboard macht. „Wenn du nicht mehr lachen kannst, wirst du wahnsinnig“, kommentiert Volodja den Humor im Angesicht des Grauens. Und das war allgegenwärtig.
Zunächst keine Flucht möglich
An Flucht war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken. Es wurde zwar von sogenannten „grünen Korridoren“ gesprochen, in denen eine kontrollierte Flucht aus der belagerten Stadt möglich sein sollte, doch dieser Weg war lebensgefährlich. So war immer wieder zu hören, wie von russischer Seite gezielt auf die Menschen geschossen Einen der schrecklichsten Momente erlebte er, als er mit eigenen Augen sehen musste, wie Menschen weggebombt wurden, die sich gerade in Schutz bringen wollten. Noch während weitere Menschen versuchten, die überlebenden zu evakuieren, schlug bereits die nächste Bombe ein und tötete die Helfer. Dass er überleben konnte, hat er seinem Vater zu verdanken, der in Kiew lebt. Der kannte jemand, der Volodja an den russischen Posten vorbeibringen konnte. Auf Umwegen umfuhr man die Posten und wenn das nicht möglich war, musste man ins Portemonnaie greifen. Über die Krim ging es nach Russland, doch zuvor wurde er in einer sogenannten Filtrationsanlage von der DNR durchleuchtet. Nach russischer Lesart dienen diese Stationen dazu, die Evakuierung zu organisieren. Für die Ukrainer ist wiederum klar, dass die Menschen nach ihrer Gesinnung überprüft werden. Handys und Notebooks werden durchleuchtet und der Körper nach verdächtigen Tätowierungen abgesucht. Wer im Verdacht steht, pro Ukraine zu sein, verschwindet, so Volodja. Um sein Leben zitternd, übersteht er die Untersuchung. Über Russland und Lettland geht es für ihn schließlich nach Polen in ein Flüchtlingscamp.
Endlich in Sicherheit
Ende Juli 2022 kam er schließlich in Worms an und wurde hier von einer Familie aufgenommen, die ihn bei allen wichtigen Behördengängen unterstützte. Das war auch notwendig, denn Volodja musste schnell feststellen, dass es nicht jeder Mensch im sicheren Deutschland gut mit ihm meinte. Auf der Suche nach einer eigenen kleinen Wohnung lernte er zwei angebliche Ukrainer kennen, die sich später als Russen entpuppten. Man verstand sich. Die Männer erklärten dem Neu-Wormser, dass sie eine Wohnung in Osthofen hätten. Die würden sie ihm vermieten. Zuvor müsste er jedoch beim Renovieren helfen, was er gerne tat. Volodja war gutgläubig und vertraute ihnen auf Nachfrage seinen Ausweis an, den sie für Behördengänge in Osthofen benötigten. Diese taten sie auch, aber anders als erwartet. Sie fälschten eine Vollmacht und meldeten ihn in Osthofen an. Als Bankverbindung für den Jobcenter, der die Miete zahlt, gaben sie schließlich ihre eigenen Daten an. Als die Zahlungen des Jobcenter ausblieben, merkte Volodja, dass er betrogen wurde. Mit Hilfe seiner Gastfamilie konnte die Situation geklärt werden. Ob die Betrüger wiederum ausfindig gemacht werden konnten, weiß er allerdings nicht. Mittlerweile wohnt er gemein- sam mit einem weiteren Ukrainer in einer kleinen Wohnung in der Wormser Innenstadt und besucht seit wenigen Wochen einen Sprachkurs. Am Ende des Gesprächs wollen wir wissen, wie Volodja die Diskussionen in Deutschland rund um die Waffenlieferungen erlebt? „Ich glaube, dass viele Menschen in Deutschland den Konflikt und die Aggressionen Russlands nicht verstehen“, erklärt nachdenklich. Er glaubt nicht daran, dass Verhandlungen eine Option sind. Für ihn ist klar, dass Putin die Ukraine auslöschen will. Ein letztes Mal beschwört er die apokalyptischen Bilder von Mariupol und erzählt, dass die russischen Armee mit fahrende Krematorien angerückt sei. Darin verbrannte man viele der zivilen Opfer, damit die echten Todeszahlen nicht mehr nachvollziehbar sind. Noch einmal fragt Volodja, sieht so der Frieden aus, den Russland in die Ukraine bringen möchte? Am Ende erklärt er: „Im Gegensatz zu vielen anderen, habe ich es geschafft, herauszukommen. Ich bin dankbar, dass ich in Worms so gut aufgenommen wurde.“ Dennoch ist es ihm wichtig zu betonen, dass er letztlich gegen sein Willen seine Heimat verlassen musste. Irgendwann würde er gerne wieder nach Mariupol zurückkehren, aber Volodja macht sich keine Illusionen. „Ich habe viele Menschen verloren, viele sind gestorben oder leben verstreut auf der ganzen Welt. Mariupol gibt es nicht mehr!“ Tatsächlich wurden offiziellen Berichte zu Folge knapp 90 Prozent der Wohnhäuser zerstört und knapp 90.000 Menschen getötet. Was die Todeszahlen angeht, so schätzt man allerdings, dass deutlich mehr Menschen den russischen Bomben zum Opfer fielen.
Text: Dennis Dirigo Fotos: privat