Wer kennt nicht das journalistische Sommerloch, das, wie der Name schon sagt, zumeist im Sommer auftritt. Zu dieser Zeit sind die meisten Politiker in Urlaub und dank schwül-warmer Temperaturen und munter vor sich hin grillender Menschen ist weit und breit kein Skandal zu erkennen. Deshalb neigen Journalisten in dieser Zeit verstärkt dazu, vermeintliche Nichtigkeiten zu einem Skandal aufzubauschen. So auch kürzlich geschehen in der Tageszeitung unter der Überschrift: „Werbung der anderen Art. Unbekannter kritzelt Einladung auf Boden.“
Bevor Ihnen jetzt die Halsadern anschwellen, weil Sie mindestens genauso empört über diese Sauerei waren, zunächst die nüchternen Fakten. Da hat ein älterer Herr mit Kreide ein paar Botschaften am Bahnhof hingeschrieben, um auf die Veranstaltung von Willy Wimmer am 15.07.15 im Lincoln Theater hinzuweisen. In der WZ vom 16.07.15 war dazu wie folgt zu lesen: „Das größte Graffiti an der Cortenstahlwand am Bahnhof, das offenbar mit gut zu entfernender Kreide aufgemalt worden ist, fordert mit „bitte wichtig“ auf, die Veranstaltung zu besuchen, gibt Ort und Uhrzeit an und ganz hinten schwimmt ein lässig an die Wand gezeichneter Hai.“ Noch dramatischer wurde die Sache, als die Tagespresse auch noch Bürgermeister Hans-Joachim Kosubek einschaltete, der betonte, dass versucht werde, den Täter zu ermitteln, „denn wenn das Graffiti auch leicht zu entfernen sein sollte, ist es dennoch Sachbeschädigung“. Kosubek fuhr weiter fort, dass der unbekannte Schreiberling auf jeden Fall die Kosten der Entfernung zu tragen habe, wobei allerdings noch nicht klar sei, ob die Stadt oder die Bahn zuständig sei. Bevor Sie sich nun aber zu Recht fragen, ob es in einer 80.000-Einwohner-Stadt nichts Wichtigeres zu berichten gibt als Kreide-Graffitis am Wormser Hauptbahnhof, möchten wir an dieser Stelle eine Lanze brechen für die Kollegen von der Tagespresse, die jeden Tag aufs Neue brisante Geschichten auftreiben müssen, damit die Leute ihnen am nächsten Tag ihre Zeitung aus den Händen reißen. Das ist nicht immer einfach und wir können leicht reden, müssen wir uns doch nur alle vier Wochen brandheiße Geschichten einfallen lassen. Wie zum Beispiel den nun folgenden Liveticker eines aufregenden Tages im Leben einer Redakteurin der Lokalpresse, der sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnte. Oder auch nicht.
Liveticker:
14.31 Uhr: Bei der größten Zeitung am Platze geht ein Anruf ein: „Habt ihr schun gseh, dass do ääner am Bahnhof Graffiti gemacht hot?“ Der Anruf landet bei der Redakteurin Susanne Müller, die empört zurückbrüllt: „An unsern Bahnhof?“
14.33 Uhr: Die hastig ihren Sommermantel umwerfende, bestens ausgebildete Undercover-Journalistin verlässt blitzartig das Redaktionsgebäude und wird im Gehen per Handy von der Redaktionsleitung informiert, dass auch an der Deutschen Bank ähnliche Graffitis aufgetaucht sind. Täter: vermutlich der gleiche wie am Bahnhof. Ähnliche Handschrift, ähnlicher Text, exakt gleiche Farbe – nämlich kreideweiß.
14.37 Uhr: Die WZ-Redakteurin trifft am Tatort ein und wird sich erst jetzt über das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Passanten bleiben fassungslos stehen, manche machen ihrem Ärger lautstark Luft: „Was e Schmiererei. An unserm Bahnhof!“
14.41 Uhr: Nach einem Moment des empörten Innehaltens entschließt sich Müller, dringende Recherchearbeiten durchzuführen und wird direkt bei einem Taxifahrer fündig, der ihr eindringlich schildert, wie ein älterer Mann komische Sachen am Bahnhof vollführt hätte. Erst habe er sein Fahrrad abgestellt, dann ein Stück Kreide rausgeholt und einige Botschaften im Bahnhofsbereich, u.a. auf die Rampe am Bahnhofsvorplatz, geschrieben. Danach sei er einfach wieder weggefahren. Die völlig konsternierten Taxifahrer versuchten noch, sich zusammen zu rotten, um den Randalierer dingfest zu machen. Aber da war er schon über alle Berge und muss kurz danach laut Zeugenaussagen an der Deutschen Bank aufgetaucht sein.
14.53 Uhr: Mittlerweile haben sich einige der umliegenden Gastronomen auf der Straße versammelt, um die Botschaft zu lesen. „Wer issen de Willy Wimmer?“ schallt es aus dem Hintergrund, aber auch die WZ-Redakteurin ist komplett ahnungslos: „Was wasen ich, wer de Willy Wimmer is. Do muss ich a erschd mo gugele?“
14.55 Uhr: Der Besitzer eines Dönerladens bietet seine Hilfe an: „Brauche Wasser? Wolle Schmierkram wegmache?“
14:56 Uhr: Susanne Müller wirft sich mit letzten Einsatz in den Eimer des Türken, der dem Graffiti-Kreide-Schmierkram mit Wasser und Putzlappen zu Leibe rücken will: „Nix do, unsern Fodograf muss erschd noch e Fodo mache. …“
15:07 Uhr: Obwohl er unterwegs zwei rote Ampeln überfahren hat, selbst in geschlossenen Ortschaften konstant über 80 km/h schnell war und zwischenzeitlich sogar sein WZ-Martinshorn aktivieren musste, trifft Starfotograf Balzarin verspätet am Tatort ein und zeigt sich erschüttert über die Verschandelung des Wormser Hauptbahnhofs. Eine riesige Menschentraube hat sich zwischenzeitlich gebildet. Alle sind sich schnell einig: Das war die Wahnsinnstat eines Einzelnen!
15:13 Uhr: Susanne Müller betritt wieder, sichtlich unter Schock stehend, die WZ-Redaktion und schildert den Kollegen, immer wieder von Tränenschüben unterbrochen, was sich Unglaubliches am Bahnhof zugetragen hat.
15:28 Uhr: Müller beginnt ihre Recherchearbeiten, um dem unbekannten Täter auf die Spur zu kommen. Sie telefoniert mit dem Vorsitzenden der Wormser CDU, Adolf Kessel, der zwar bei der gleichen Partei wie Willy Wimmer ist, aber mit der Veranstaltung im Lincoln überhaupt nix zu tun hat. Gleichwohl ist auch Kessel empört über die Graffitis.
15:36 Uhr: Müller schaltet nun auch Bürgermeister Kosubek ein, der seine Empörung schier überhaupt nicht mehr verbergen kann. Mehrfach schreit er die WZ-Redakteurin an: „An unserm Bahnhof?“ Als Müller dies erwidert, reagiert Kosubek erleichtert, da hierfür die Bahn zuständig wäre. Trotzdem zeigt sich Kosubek von Berufswegen extrem empört über die Sauereien und spricht von Sachbeschädigung.
15:44 Uhr: Auch der elfte Kaffee an diesem Tag nützt nichts mehr. Müller bricht den Arbeitstag vorzeitig ab, nachdem sie hilflos stammelnd in ihrem Redaktionsbüro vorgefunden wurde: „Wer macht denn sowas?“ Die Redaktionsleitung schickt die sichtlich angeschlagene Redakteurin vorzeitig nach Hause.
15:49 Uhr: Bei der Verabschiedung ruft eine Kollegin: „Gehst du heut Abend zu dem Vortrag vom Willy Wimmer ins Lincoln Theater?“ Müller antwortet: „Nee, ich hab kää Zeit für sowas, ich muss noch e halbi Seit für morgen fülle. Do schreib ich den Artikel „Graffitis am Hauptbahnhof“. Bevor es regnet und die Schmierereien fort sin und sich kääner mehr uffregt.“
Übrigens: Willy Wimmer gehörte nur schlappe 33 Jahre einem Gremium namens „Deutscher Bundestag“ an. Der CDU-Politiker war zwischen 1985 und 1992 verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/ CSU. Über dessen hörenswerte Lesung im Lincoln Theater zum Thema „Ukraine- Konflikt“ (siehe WO! Seite 42) hat man tatsächlich nichts in der Wormser Zeitung gelesen. Dafür immerhin über Graffiti-Schmierereien an einem Bahnhof, der nun wahrlich nicht zu den schönsten des Landes zählt – verursacht durch ein handelsübliches Stück Kreide. Na, wenn das keinen halbseitigen Artikel wert ist. Bevor Sie uns nun aber vorwerfen, dass nicht nur die WZ ihre Mitarbeiter für das Schreiben von Artikeln über Nichtigkeiten bezahlt, sondern im Endeffekt auch unser WO!-Magazin, das über diese Nichtigkeit ebenfalls berichtet, der irrt. Denn unser Kollege hat die 18,78 Euro Lohn, die er für den Artikel erhalten hätte, ganz uneigennützig an den von uns selbst gegründeten Verein „Keine Kreide-Graffitis am Hauptbahnhof Worms e.V.“ gespendet. Dieser uneigennützige Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, keine sinnlose Zeit zu verplempern und sofort auszurücken, sobald unser Bahnhof noch einmal mit Kreide verschandelt wird. Von den gespendeten 18,78 Euro sollen ein Eimer und zwei Putzlappen angeschafft werden. Wenn Sie also mal wieder so genannte Kreide-Graffitis am Bahnhof entdecken, dann handeln Sie schnell und rufen Sie einfach bei uns in der Redaktion an. Wir klären erst gar keine Zuständigkeiten, uns ist schlichtweg egal, ob Bahn oder Stadt zuständig sind. Wir versprechen, dass wir die Kreide innerhalb der nächsten 60 Minuten nach Ihrem Anruf schnell und unbürokratisch entfernen, ohne Mensch und Vieh verrückt zu machen. Da muss sich die WZ-Redaktion halt sputen, wenn sie mal wieder einen reißerischen Artikel für den nächsten Tag braucht.