Die Liveszene in Deutschland kollabiert in Raten
Deutschland liebt seine Künstler einfach nicht. Wobei: Die Deutschen mögen es schon sehr gerne, Kultur in all ihren Facetten zu genießen – das hat der zurückliegende Sommer gezeigt. Konkret ist es die Politik, die ihre Künstler – nicht erst seit Corona – jämmerlich im Stich lässt. Während die Livebranche auf einen ungewissen Herbst zusteuert, ist schon jetzt absehbar, dass es in Zukunft immer schwieriger sein wird, mit Kultur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Für das Land der Dichter und Denker ist das ein absolutes Armutszeugnis.
Hinter uns liegt ein unbeschwerter Kultursommer, den nicht wenige Menschen in diesem Land ausgiebig genossen haben. Bei einem Blick auf den Terminkalender des abgelaufenen Sommers konnte durchaus der Eindruck entstehen, dass sich in den zwei Jahren Corona-Zwangspause einiges angestaut hatte, was es nun nachzuholen galt. Während so mancher Veranstalter im Frühjahr noch bange Richtung Sommer blickte, schienen mit dem Wegfall der meisten Corona Schutzmaßnahmen alle Dämme zu brechen. Allerorts begingen Musikfestivals, Theaterfreiluftaufführungen und Volksfeste ein Comeback. Vor allem die großen Musikfestivals des Landes feierten eine spektakuläre Rückkehr, die die Daheimgebliebenen per Live- stream verfolgen konnten, um dabei festzustellen, dass irgendwie alles wieder „wie früher“ war. Bei „Rock am Ring“ und dem Parallelfestival „Rock im Park“ kamen am Pfingstwochenende zusammen 165.000 Besucher in die Eifel bzw. ins Nürnberger Frankenstadion. Das „Southside“ Festival in Neuhausen ob Eck vermeldete mit 65.000 Gästen die besucherstärkste Auflage seit Bestehen, beim Schwesterfestival „Hurricane“ in Scheeßel waren sogar fast 80.000 Besucher. Für das legendäre Metal-Festival in Wacken waren die 80.000 verfügbaren Karten innerhalb von fünf Stunden komplett vergriffen. Die Zahlen und Bilder der großen Festivals schienen eindrucksvoll zu untermauen, wie viel Nachholbedarf die Musikfans hatten.
Also alles wie früher im Festivalbereich?
Nicht ganz. Wer glaubt, dass im Sommer 2022 alles wieder wie „vor Corona“ war, sieht sich leider getäuscht. Denn während die großen Musikfestivals boomten wie nie zuvor und die Bilder von Zehntausenden feiernden Fans auf dem Nürburgring oder aus Wacken um die Welt gingen, litten viele kleinere Festivals unter Besuchermangel oder mussten sogar kurzfristig abgesagt werden. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Angefangen bei deutlich gestiegenen Kosten für die Technik, Personal, Sicherheitsleute oder ganz profan für Lebensmittel und Benzin. Wer mit den Zahlen kalkuliert hatte, die vor Corona galten, erlebte bei der Planung eines Festivals in diesem Sommer ein blaues Wunder. So kam es, dass vielerorts Festivals abgesagt wurden, weil die Veranstalter mitteilten, dass man aufgrund der neuen Kostensituation selbst bei voller Auslastung nicht gewinnbringend arbeiten könne. Prominentes-es Beispiel war das „Fusion“-Festival in Mecklenburg-Vorpommern, wo zwar 80.000 Besucher für ein volles Haus sorgten, aber am Ende doch ein Loch von 1,5 bis 2 Millionen Euro in der Kasse klaffte. Als Gründe für das Defizit wurden „enorme Preissteigerungen“ für Materialien, Dienstleistungen, Technik und Infrastruktur genannt. In den meisten Fällen war jedoch der Hauptgrund für die Absage eines kleineren Festivals, dass der Vorverkauf nur sehr zögerlich verlaufen war. Während also die Big Player der Branche davon profitierten, dass die Musikfans derart ausgehungert waren, dass sie für ein großes Event bereit waren, viel Geld zu investieren, fehlte selbiges dann für die kleinen Festivals. Dieses Bild zeigte sich auch bei den großen Stadionbands, die die Open Air Venues des Landes geradezu überfluteten. Mit Rammstein, Die Ärzte, Die Toten Hosen, Seeed, Die Fantastischen Vier oder den Böhsen Onkelz waren die Topseller des Landes auf Tour und sorgten für ausverkaufte Stadien. Helene Fischer, Andreas Gabalier und Robbie Williams spielten Megakonzerte vor 100.000 in München. Aber auch internationale Größen wie die Rolling Stones, Red Hot Chili Peppers, Iron Maiden oder Pearl Jam waren in Deutschland unterwegs und konnten sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen. Nationale Größen wie Udo Lindenberg und Peter Maffay nutzten die Sommermonate, um ihre mehrfach ausgefallenen Hallentourneen nachzuholen. Im Sommer 2022 war also einiges geboten an großen Konzerten! Die Diskrepanz zwischen den großen und kleinen Bands trat aber auch hier zutage. Während sich manche Branchengrößen den Corona-Ausfall durch eine höhere Gage ausgleichen ließen, mussten unbekanntere Bands hinsichtlich ihrer Gagenforderungen deutlich kleinere Brötchen backen. Aufgrund des Aus- falls kleinerer Festivals hofften nicht wenige Bands auf einen schlecht bezahlten (oder sogar unbezahlten) Nachmittagsslot bei einem großen Festival, um überhaupt noch im Fokus der Öffentlichkeit zu bleiben. Dagegen haben beispielsweise Metallica für einen Auftritt in Sofia die Rekordgage von 1,6 Millionen US-Dollar (1,18 Mio. Euro) kassiert. Branchenkenner vermuten, dass sich die Gage für ihr einziges Deutschland-Konzert vor 70.000 Besuchern beim „Download-Festival“ auf dem Hockenheimring ebenfalls im siebenstelligen Bereich bewegt hat. Der- weil mussten kleinere Bands gleich ganze Tourneen canceln – aus den bereits angeführten Gründen. Gestiegene Kosten, gepaart mit einem zögerlichen Vorverkauf, ließen viele Bands vorzeitig die Reißleine ziehen. Für den Herbst sind zahlreiche Clubtourneen bereits abgesagt, da die gebuchten Musikclubs darum gebeten hatten, weil sie befürchten, nicht gewinnbringend arbeiten zu können, sofern im Herbst das Corona-Bürokratiemonster erneut zuschlägt. Dazu kommt, dass es einen gewissen Prozentsatz an Bürgern gibt, die, aus Angst vor einer Ansteckung mit Corona, Großveranstaltungen immer noch meiden. Das gilt besonders für enge Hallen oder Clubs, was die Planungen der Livebranche für den kommenden Herbst sicherlich nicht einfacher macht.
Und wie war der Kultursommer in Worms?
Die Theaterfans zeigten sich ähnlich vorfreudig wie die Musikfans und sorgten für erfolgreiche Nibelungen Festspiele mit mehr als 20.000 Besuchern. Die starke Auslastung von 95 Prozent war sicherlich dem Umstand geschuldet, dass das Stück „hildensaga. ein königinnendrama“ einfach gut war. Nach den ersten positiven Kritiken in den Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen zog der Kartenverkauf dementsprechend noch einmal kräftig an. Dagegen waren beim Wormser „Jazz & Joy“ in diesem Jahr nur 14.500 Besucher. Diese Zahl klingt im Vergleich zu den knapp 20.000, die vor Corona kamen, erstmal wenig, ist aber schnell erklärt. Durch den Wegfall der kostenlosen Bühne vor der Jugendherberge entfielen auch deren Besucher, die in der Vergangenheit zwar keinen Eintritt gezahlt haben, aber trotzdem in die Gesamtbesucherzahl einflossen. Dazu kamen ein mäßig besuchtes Sonderkonzert (2.000 Besucher bei Silbermond) sowie das Überangebot an großen Events in diesem Sommer – bei einem zunehmend leereren Geldbeutel der Leute. Dass ein Festival wie „Jazz & Joy“ überhaupt noch durchführbar ist, liegt auch an dem städtischen Zuschuss in Höhe von 200.000 Euro. Wie sich die geringeren Be- sucherzahlen auf die Endabrechnung ausgewirkt haben, wird man noch sehen. Fakt ist aber, dass es in Zukunft immer schwieriger sein wird, ein Festival wie „Jazz & Joy“ auszurichten, ohne den städtischen Zuschuss zu erhöhen oder eine konzeptionelle Änderung vorzunehmen. Im Übrigen versuchten sich im Kultursommer 2022 auch zwei private Veranstalter an Open-Air-Festivals in Worms. Der Alzeyer Kalli Gauch war besonders mutig und legte bereits Ende letzten Jahres, als Corona noch das präsente Thema in den Medien war, den Termin für seinen ersten „Schlager Bäm“ in der Nibelungenstadt fest. Zu dem Schlagerfestival mit u.a. Kerstin Ott, Michelle und Überraschungsgast Giovanni Zarella (für den an Corona erkrankten DJ Ötzi) kamen Mitte Juli 2.500 Besucher auf den Festplatz. Damit zeigte sich der Veranstalter insgesamt zufrieden, auch wenn man im Vorfeld mit mehr Gästen gerechnet hatte.
Für Kritik in den Sozialen Medien sorgten die knapp 65 Euro Eintritt, die für sieben Stunden Livemusik mit sieben Künstlern eigentlich ein fairer Preis sind, der aber vielen Wormsern schlichtweg zu hoch war. Vor diesem Hintergrund kam das Festival „Worms rockt“, mit dem die veranstaltende Bankett Plus GmbH aus Leonberg ein gänzlich anderes Konzept verfolgt, gerade recht. Hier konnten die Wormser fünf Wochen lang, jeweils mittwochs, hochwertige Co- verbands von Robbie Williams, Die Ärzte/Die Toten Hosen, U2, Abba und Coldplay auf dem Festplatz hören – und das alles bei freiem Eintritt. Trotzdem war der Zuspruch anfangs schleppend (ca. 500-600 bei Mr. Williams), beim letzten Konzert der Coldplay Tribute Band „Viva la vida“ dürften 1.500 Besucher da gewesen sein. Das ist ganz ordentlich für Wormser Verhältnisse, andererseits aber auch recht wenig, wenn man bedenkt, dass man letztendlich nicht mehr machen kann, als qualitativ hochwertige Musik bekannter Bands auch noch kostenlos anzubieten. Dass ein Festival wie „Worms rockt“ letztendlich nur über die angebotene Gastronomie finanziert werden kann, wollten trotzdem einige Besucher nicht verstehen und monierten sich über die Preise der Getränke und Speisen, die natürlich etwas höher waren als bei einer Veranstaltung mit Eintritt. Hier muss man aber klar sagen: Wer ein Bier für 3 Euro trinken will, soll in seine Stammkneipe gehen – allerdings ohne Livemusik und bekannte Gesichter, die man auf einem Festival trifft. Das passt allerdings zu dem merkwürdigen Verständnis einiger Besucher, was Kultur heutzutage kosten darf. Auf der einer Seite war man bereit, großen Acts für ein zweistündiges Konzert exorbitant hohe Eintrittspreise zu zahlen, um aber auf der anderen Seite über vergleichsweise geringe Preise für kleinere Konzerte oder Festivals die Nase zu rümpfen. So war dies auch beim diesjährigen „Worms: Jazz & Joy“ zu beobachten. Da diesmal die kostenlose Bühne vor der Jugendherberge weggefallen ist, war einigen Besuchern der Preis für eine Tageskarte (VVK: 25.- Euro /AK: 30.- Euro) zu hoch. Dass man dafür den ganzen Tag über „theoretisch“ zwölf Bands und einen Weltstar wie Bonnie Tyler für 25 Euro hören konnte, schienen einige potentielle Besucher nicht zu erkennen. Zum Vergleich: Für das Konzert von Bonnie Tyler im Dezember 2023 im Mannheimer Rosen- garten liegen die Eintrittspreise zwischen 47 und 92 Euro. Gemessen daran sind die Konzertpreise beim Wormser „Jazz & Joy“ nach wie vor ein absolutes Schnäppchen.
Wird Kultur in Zukunft unbezahlbar?
Aber Schnäppchen hin oder her, die Frage muss lauten, ob Kultur in der bisherigen Form zukünftig überhaupt noch finanzierbar ist – so- wohl für Veranstalter, als auch für die Besucher – wenn dann im nächsten Jahr deutlich höhere Energiekosten anfallen? Dazu kommt der Fachkräftemangel im Bereich der Veranstaltungstechnik, der die Preise weiter nach oben treiben wird. Da sich während Corona viele Fachkräfte aus der Not heraus ein anderes Berufsfeld gesucht haben und dort auch geblieben sind, fehlen nun allerorts die Leute, die essenziell sind, um eine Veranstaltung durchführen zu können. Wenn man zukünftig einen kompetenten Tontechniker braucht, wird man entsprechend dafür hinblättern müssen. Der Rattenschwanz, der höhere Ausgaben für die Durchführung von Veranstaltungen nach sich zieht, wird die Preis- spirale für Tickets immer weiter nach oben treiben. Einen ersten Vorgeschmack lieferte „Rock am Ring“, wo die Early-Bird-Tickets für 2023 für 199.- Euro angeboten wurden – das sind satte 50 Euro mehr als in diesem Jahr. Trotzdem werden die Großen der Branche mit klangvollen Namen im Line Up weiterhin genügend Besucher anlocken. Eng wird es dagegen für die kleinen Festivals und Bands, die noch nicht den großen Durchbruch hatten, bei denen es zunehmend ans Eingemachte geht. Wer jetzt argumentiert, dass man bei einem großen Konzert auch deutlich mehr für sein Geld geboten bekommt, verkennt dabei, dass jede große Band einmal klein angefangen hat – in einem verschwitzten Musikclub vor nur wenigen Zuschauern. Diese Chance wird der Kleinkultur immer mehr genommen, da- bei sind es vor allem die vielen unbekannten Künstler fernab des Mainstreams, die für kulturelle Vielfalt sorgen. Die aktuelle Entwicklung in der Kulturbranche ist mehr als bedenklich. Von politischer Seite wird man keine Hilfe erwarten können. Wieviel der Politik die Kleinkultur wert ist, hat sie während der Corona Zeit unter Beweis gestellt, bestanden doch die ausgezahlten Hilfen in erster Linie aus Subventionen für Theater, Opernhäuser und andere, ohnehin staatlich geförderte Einrichtungen. Von daher muss ein Umdenken vor allem in der Gesellschaft stattfinden, sonst wird das Thema Kleinkultur schon bald nur noch ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten sein. Wer möchte, dass die kleinen Clubs nicht schließen und viele noch unbekannte Künstler vorzeitig von der Bühne abtreten, muss selbst aktiv etwas dagegen tun. Aber wie soll man das einer Gesellschaft erklären, die lieber bei dem Unternehmen eines amerikanischen Multimilliardärs bestellt, anstatt den Händler um die Ecke und damit sein direktes Umfeld zu unterstützen? Man kann nur hoffen, dass ein Appell für die Kleinen in der Kultur nicht ähnlich wirkungslos verpufft.
Text: Frank Fischer, Foto: Andreas Stumpf