Jazz and Joy 2023 Marktplatz

11. August 2023 | Innenstadt Worms: Endlich. Nachdem dunkle Wolken und viel Regen die letzten Wochen dominiert hatten, kam der Sommer pünktlich zur 32. Auflage des Festivals „Jazz and Joy“ wieder zurück. Das freute natürlich auch die Veranstalter, denn gutes Wetter bedeutet zugleich viele Zu- schauer. Und die kamen dann auch, sodass die organisierende KVG am Ende 16.000 Gäste vermelden konnte. Musikalisch versprach Kulturkoordinator David Maier beim offiziellen Gästetreff im Innenhof des Andreasstiftes, dass es jede Menge talentierte Musikerinnen und Musiker an diesem Wochenende zu entdecken gilt. Eine Aussage, mit der er Recht behalten sollte. Auf vier Bühnen konnten Musikbegeisterte, neben einigem Bekannten, insgesamt 33 Bands für sich entdecken. Das bedeutet natürlich, jede Menge Fußwege zurückzulegen und mitunter die Erkenntnis, leider nicht überall sein zu können.

Für die WO! Redaktion startete das Musikwo- chenende um 20 Uhr mit der jungen deutsch- türkischen Band ENGIN. Die zeigten gleich mal mit ihrem rohen, ungeschliffenen Sound, der pausenlos zwischen orientalischen Rhythmen und straightem Indierock mäanderte, wie man ein Festival rockt. Mit klarem Blick auf Tanzbarkeit war es dann auch kein Wunder, dass schon bald vor der Jugendherberge die ersten Beine im Takt zu zucken begannen. ENGIN gehören zu jenen Nachwuchsmusikern, die einem die Hoffnung zurückgeben, dass es auch ein musikalisches Leben jenseits der radiotauglichen Oerdings und Giesingers gibt. Der unbestrittene Star des ersten Festivaltages war wiederum Nils Landgren, der die Bühne am Weckerlingplatz nach nur wenigen Takten selbstbewusst dominierte. Zuvor gab sich das Festival allerdings ganz traditionell und startete das Bühnenprogramm einmal mehr mit der JAZZ & JOY: PRIVATE SELECTION, einer regionalen Allstar Band, deren Besetzung von Jahr zu Jahr variiert.

Nils Landgren Fusion Unit

Mit virtuosem Jazz im Programm unterstrichen sie musikalisch die eigentliche Herkunft des Festivals, das in frühen Jahren sicherlich mehr Jazz als Joy im Programm hatte. Für beides stand schließlich der schwedische Top-Posaunist NILS LANDGREN. Seinen „Spaß“ bezieht der Musiker dabei aus seiner Liebe zum Funk, der sich mit dem Bandzusatz „Funk Unit“ bereits im Programmtitel abzeichnete. Seit mehr als 30 Jahren dominiert er wie kein Zweiter diese energetische Liaison zwischen Funk und Jazz. Klar, dass die Begeisterung des Publikums groß war und die musikalische Präzision von Landgren und seinen Mitmusikern gerade- zu ehrfurchtgebietend. Dabei ist der Schwede bei dem Festival kein Unbekannter. Bereits 2011 erspielte er sich genug Credibility, sodass ihn David Maier gerne erneut einlud, um dem Festival einen würdigen Start zu verpassen. Wie würdig, zeigte sich am Ende, als er einen jungen Nachwuchsposaunisten namens Arthur auf die Bühne holte, um gemeinsam den Song „Ain’t nobody“ vom 1990 erschienen Album „Follow your heart“ zu performen. Ihrem Herzen folgten auch die zahlreichen Zuhörer und spendeten am Ende des Abends begeistert Applaus.

Das Sonderkonzert auf dem Marktplatz bestritt MAX GIESINGER. Seit Giesinger zur Zielscheibe von Jan Böhmermanns Spott wurde, als dieser in seiner Sendung „ZDF Magazin Royale“ den deutschen Mainstream-Pop durch den Kakao gezogen hat, gilt er als Aushängeschild des deutschen Durchschnittspop der Marke Wincent Weiss, Mark Forster oder Tim Bendzko, der vor allem durch seine Radiokompatibilität besticht. Zwar wurde Giesinger zudem als Teilnehmer bei „The Voice of Germany“ erstmals einem Millionenpublikum bekannt, trotzdem ist er als langjähriger Straßenmusikant und Vollblutmusiker nicht mit einem typischen Casting-Produkt vergleichbar. Vor allem aber ist Max Giesinger grundsympathisch. Alleine schon, wenn der gebürtige Karlsruher sein Publikum auf Badisch bespaßt. Und natürlich hatte sich der Badener vorab informiert und wusste, dass Worms nicht in Hessen und auch nicht in Rheinland-Pfalz, sondern streng genommen in Rheinhessen liegt. Damit sammelt man Sympathiepunkte beim Publikum. Und Giesinger weiß, wie man Spannung aufbaut, denn die erste Minute des eher getragenen Openers „Das Wunder sind wir“ verbrachte er singend hinter einem durchsichtigen Vorhang, der erst zum Refrain runterfiel. Beim zweiten Song „Legenden“ kletterte er über die Absperrung und es kam zum ersten Gang durchs Publikum – und es sollte auch nicht der letzte bleiben. Bei so viel Nähe zu den Fans war das Eis schnell gebrochen.

Max Giesinger

Als dann als vierter Song „Wenn sie tanzt“ ertönte, stellte sich nicht zum letzten Mal an diesem Abend ein Déjà-vu Erlebnis ein. Der dauerhafte Radioeinsatz hat seine Spuren hinterlassen, denn nahezu jeden zweiten Song des Abends hat man schon mal irgendwo gehört. Nach einer halben Stunde erfolgte ein Wechsel auf die kleinere B-Stage, die in der Mitte des Marktplatzes platziert war, um mit „4000 Wo- chen“ und „More to this life“ zwei ruhige Songs zum Besten zu geben – letzterer war ein Charterfolg im Duett mit seinem Kumpel Michael Schulte (der in Worms leider nicht dabei war). Im Zuge des Songs „Kalifornien“, der kurzerhand zu „Worms City“ umgedichtet wurde, plauderte Giesinger über seine bisherigen drei Besuche in Worms. Beim ersten Mal waren 30 Besucher bei „Stille Töne“ im Heylsschlösschen, beim zweiten Auftritt waren knapp 4.000 Leute beim Rheinland-Pfalz-Tag 2018 vor der Bühne am Festplatz (allerdings bei freiem Eintritt), dieses Mal hatten laut offiziellen Angaben 1.750 Besucher den Weg auf den Marktplatz gefunden. Vor allem aber wirkt Giesinger dabei wie jemand, der es nach jahrelanger Tortur durch die kleinen Clubs immer noch nicht fassen kann, dass so viele Leute nur wegen ihm kommen.

Max Giesinger

Nach den beiden Radiohits „Roulette“ und „Auf das, was da noch kommt“ (im Original im Duett mit Lotte) kam es gegen Ende hin zum spannendsten Teil des Konzerts, denn nun war Zufalls-Karaoke angesagt. Sprich: Jemand aus dem Publikum durfte Zettel aus einem Beutel fischen, auf denen ein Songtitel stand, den die Band anschließend spielen musste. Die Wahl fiel auf „Girls just wanna have fun“ von Cindy Lauper, der ordentlich Bewegung ins Publikum brachte. Anschließend „Highway to hell“ von AC/DC – formidabel gespielt von der Band und richtig gut gesungen von Giesinger. Die Schlagzeile des Tages lieferte der Frontmann selbst, als er anschließend mutmaßte, dass die Besucher morgen erzählen würden: „Es beschde war, als de Giesinger „Highway to hell“ gesunge hat…“ Dass bei diesem Song tatsächlich die beste Stimmung herrschte, wollen wir einfach mal der unbändigen Kraft des Rock’n’Rolls zuschreiben. Nach dem letzten Song des Hauptprogramms „Zuhause“, gab es noch drei Zugaben. „Das letzte Prozent“ spielte Giesinger alleine am Klavier auf der B-Stage, um dann nach dem Intro seines größten Hits „Einer von 80 Millionen“, der entsprechend abgefeiert wurde, ein letztes Mal durchs Publikum auf die Hauptbühne zu laufen. Das hymnische „Für immer“ als letzte Zugabe beendete einen Abend, der kurzweilig und musikalisch ansprechend war, sofern man radiotaugliche Popmusik mag.

12. August 2023 | Innenstadt Worms: Einige Stunden vor Beginn des zweiten Festivaltages begann nochmal das große Wetterzittern, da sich ein ordentlicher Regenschauer über Worms ergoss. Doch das Wetter zeigte sich einmal mehr gnädig mit Worms und bescherte Tag zwei, bis auf einen leichten Sommerregen am Nachmittag, perfekte Festivalbedingungen. Die sorgten dafür, dass der Publikumszuspruch deutlich größer war als am ersten Tag.  

Als Familienmagnet erwies sich auch das Kinderfest, das an diesem Tag eröffnet wurde. Allerdings konnte es aufgrund des aufgeweichten Bodens vor dem Wormser Dom erst am folgenden Sonntag mit einladender Hüpfburg und mehr Überraschungen seine volle Pracht entfalten. Für ein wenig Unmut sorgten wieder mal die Glocken der umliegenden Kirchen. Bei Facebook meldete sich diesbezüglich auch der evangelische Pfarrer VOLKER FEY, der für die Dreifaltigkeitskirche verantwortlich ist, zu Wort und erklärte: „Es gab (und gibt alljährlich) durchaus eine Anfrage der veranstaltenden KVG, ob wir dieses Glockenge- läut ausschalten könnten. Da jedoch seit einigen Jahren kein Glöckner mehr die Stufen hinaufsteigt und die Glockenseile zieht, sondern Computer Uhrschlag und Glocken steuern, ist es technisch nicht so einfach, dies an allen Orten gleichzeitig zu tun; vor allem in der Ferienzeit ist es schlicht unmöglich, denn auch Küster/innen und Pfarrer/innen machen gelegentlich Urlaub …“. Im Grunde könnte man auch feststellen, dass es längst eine unausgesprochene Tradition ist, wenn sich kurz vor 18 Uhr die Glocken von Worms zu einem ganz eigenen Konzert zusammentun. Im Mittelpunkt standen aber natürlich an diesem Tag nicht die Glocken, sondern 16 musikalische Beiträge.

Esinam

Den ersten Auftritt des Tages bestritt die Musikerin ESINAM alleine mit einem Mikrofon, Keyboard, Loop, Querflöte und Gesang auf dem Schlossplatz. Zugleich gab die Musikerin mit ghanaischen Wurzeln die musikalische Ausrichtung für diesen Tag auf dem Schlossplatz vor. Denn der stand klar im Zeichen moderner afrikanischer Weltmusik, mit einem starken Hang zu Pop. Eine Melange, die faszinierte. Immer wieder arbeitete die Musikerin in ihre elektronischen Beats folkloristische Elemente ein, sodass ein für westliche Ohren faszinierender Klang Mix entstand. Deutlich konventioneller ließen es THE PLANETOIDS an der Jugendherberge angehen. Frisch von der Popakademie Mannheim kommend, unterhielten sie mit eingängiger Popmusik, die ihre Wurzeln im Funk und Disco Sound der 70er Jahre hat, inklusive Falsettgesang, einer Vorliebe für lange Haare und die Farbe „gelb“. Mit Beginn der Festivalprimetime ab 20 Uhr füllte sich zunehmend der größte Platz des Festivals, der Marktplatz. Bevor Alice Merton den Platz rocken würde, waren es zunächst aber fünf Franzosen, die das Publikum in Wallung spielen sollten. Doch davon war beim Auftritt der französischen Band LES YEUX D’LA TêTE zunächst nichts zu spüren. Da für gewöhnlich der Programmablauf bei Jazz & Joy geradezu akribisch eingehalten wird, sorgte es erstmal für Verwunderung, dass die französische Band offensichtlich keine Lust hatte, sich an den Zeitplan zu halten. Stattdessen gab es einen ausgiebigen Soundcheck und viele Diskussionen mit der Technik, die sich letztlich bis 20:30 Uhr zogen. So startete das Konzert satte 30 Minuten später. Musikalisch reichte man eine unterhaltsame Mischung aus Balkan Sounds, gepaart mit charmanten französischen Chansons. Da wie gesagt der Zeitplan eine kleine Festivalbibel ist, hatte die Verzögerung zur Folge, dass die Zuschauer zunächst nicht mehr in den Genuss einer Zugabe kamen. Die wurde zwar noch angespielt, doch die Franzosen machten die Rechnung ohne die Techniker, die im wahrsten Sinne des Wortes am längeren Hebel saßen und der Band einfach den Saft abdrehten. LES YEUX D’LA TêTE ließen sich ihr Finale aber dennoch nicht nehmen und spielten einfach unplugged inmitten des Publikums weiter, während der Bühnenaufbau für den finalen Gig voranschritt. Und so hieß es anschließend:

Alice Merton

Bühne frei für ALICE MERTON. Die Frau ohne Wurzeln, die in Frankfurt geboren wurde, anschließend vierzehn Mal in vier verschiedene Länder umzog, lange Zeit in Kanada lebte und nun in Berlin heimisch wurde, hat über ihr Nomadenleben den Song „No Roots“ geschrieben. Dieser Song, der auf Platz zwei der deutschen Charts landete, sowie ihre Teilnahme als Jurorin bei „The Voice of Germany“ machten sie einem Millionenpublikum bekannt. Ihre größtenteils autobiografischen Texte sind eine der großen Stärken Mertons, während ihre Musik mit pumpenden Rhythmen und Bass lastigen Arrangements eher Richtung Tanzboden zielt. Gepaart mit Mertons Agilität auf der Bühne bescherte dies den Besuchern ihres Konzertes einen unterhaltsamen Abend, auch wenn sich das Warten auf DEN großen Hit bis zum Finale hinzog. Aber bereits mit den ersten Takten von „No Roots“ tanzte der Marktplatz, das folgende „Why so serious?“ schlug in die gleiche Kerbe, so dass das Publikum Merton zu einer und Rausch haben eine lange gemeinsame Geschichte. Warum also nicht gleich im Titel diese Tatsache fusionieren? So in etwa müssen sich das die 15 Musiker von der JAZZRAUSCH Bigband gedacht haben. Was sie unter diesem „Jazzrausch“ verstehen, davon konnte man sich zum Abschluss des Festivalsamstags ein eindrückliches Bild machen. Vom ersten Takt an trieben die Musiker ihren starken Mix aus Techno und Jazz gnadenlos voran. Dabei zogen die Musiker das Publikum mit ihrem aufregenden Stilmix nach und nach in einen musikalischen Rausch, der dafür sorgte, dass aus dem historischen Weckerlingplatz ein Technotempel wurde. Unterstützt wurde das mitreißende Spiel der Musiker von dem ab- solut perfekt abgestimmten Mix der Jazz & Joy Techniker. Kurzum, JAZZRAUSCH lieferten ohne Frage einen absoluten musikalischen Höhepunkt des Festivals, sodass sich das Publikum erschöpft, aber zufrieden auf einen dritten Tag freuen konnte.

Jazzrausch

13. August 2023 – Innenstadt Worms: Der Sonntag war diesmal, nach der Meinung vieler Besucher, der Tag mit den hochkarätigsten Künstlern im Line Up. Neben den Auftritten von Ex-Genesis-Sänger RAY WILSON, MAX MUTZKE oder Geheimtipp GRINGO MAYER war es vor allem das Abschlusskonzert von GENTLEMAN auf dem Marktplatz, das nicht nur zum bestbesuchten, sondern auch zum stimmungsvollsten Konzert des Wochenendes wurde.

Gäbe es einen Publikumspreis bei Jazz & Joy, DE BREAKS wären ein garantierter Anwärter gewesen. Zugleich gebührt der Frankenthaler Band die Ehre, die jüngste Formation gewesen zu sein, die jemals bei Jazz & Joy aufgetreten ist. Jung, das heißt im Falle der vier Jungs: zwischen 10 und 13 Jahren. Dennoch kann die Band bereits auf einen gewissen Bekanntheitsgrad verweisen, den sie ihrer publikumswirksamen Teilnahme an der TV-Show „The Voice Kids“ zu verdanken haben. Nun ist 13:30 Uhrihren dynamisch kraftvoll gespielten Cover-Versionen, von „American Idiot“ über „Rockin‘ all over the World“ bis hin zu „Major Tom“, animierten sie das erstaunlich zahlreich erschienene Publikum zum kräftigen Mitgrölen und Tanzen. Dass sie aber deutlich mehr Ambitionen haben als nur zu covern, zeigten sie mit ihrem ersten selbstgeschriebenen Song „Berlin“. Noch etwas ungelenk im Songwriting, ließ der deutlich Punk beeinflusste Song auf jeden Fall weiteres Potential erkennen. Wer weiß, vielleicht spielt die junge Band bereits in ein paar Jahren ein Konzert auf dem Marktplatz? Derweil ist GRINGO MAYER längst über den Newcomer Status hinausgewachsen und kann auf eine größere Fanbase verweisen, was sich auch vor der Jugendherberge zeigte. Sein Markenzeichen ist eine große Vorliebe für seine Muttersprache, den pfälzischen Dialekt. Doch wer jetzt sagt, das ist doch nichts Neues, sollte unbedingt ein Konzert mit dem sympathischen Ludwigshafener besuchen.

Gringo Meyer

Es gibt wahrscheinlich keinen zweiten Musiker, der es schafft, als klänge pfälzisch wie eine poetische Kunstsprache, die frappierende Ähnlichkeiten mit Englisch aufweist. Musikalisch weiß sein Bluesrock mit klarer Singer/Songwriter Attitüde zu begeistern. Und so gelang es ihm mühelos, den Platz vor der Jugendherberge in Ekstase zu versetzten. Das ist natürlich am frühen Nachmittag auf dem Marktplatz eine schier unmögliche Mission. Mit ihrem gepflegten Pop, der immer wieder die Nähe zum Soul suchte, versuchte die Hamburger Musikerin MIU, nebst Begleitband, erst gar nicht, das überschaubar anwesende Publikum in Ekstase zu versetzen. Stattdessen gab es gepflegtes Songwriting, das ein untrügliches Gespür für ohrwurmtaugliche Melodien aufwies. Gern hätte man sich in diesen Momenten in einem Stühlchen zurückgelehnt, um entspannt den nicht minder entspannten Klängen zu lauschen.

Eine kleine Genesis-Party gab es anschließend auf dem Marktplatz, wobei es RAY WILSON mit seinem „Genesis-Classic“ Programm nicht ganz so genau genommen hat. Schließlich fanden sich in der Setlist auch Solo-Songs von Peter Gabriel („Sledgehammer“), Phil Collins („Another day in Paradise“) oder Wilson selbst („American Beauty“). Zunächst ging es aber standesgemäß los mit einer Genesis-Nummer aus ihrer Spätphase „No son of mine“, gefolgt von „That’s all“, um die immer stärker eintrudelnden Genesis-Fans auf Betriebstemperatur zu bringen. Im Laufe des Abends fiel auf, dass Wilsons Stimme der von Peter Gabriel ähnlicher ist, für die hohen Töne von Phil Collins ist seine Stimme zu rau und erdig. Wilson hatte nach Collins‘ Ausstieg 1996 für das letzte offizielle Studioalbum, „Calling all Stations“, die Rolle des Sängers bei Genesis eingenommen. Dass man sich seinerzeit für den ehemaligen Frontmann von Stiltskin entschieden hatte, unterstrich den Willen der Band, sich wieder mehr Richtung Prog-Rock zu besinnen und das Image der 80er Jahre als Popband abzulegen. Tatsächlich sparte Wilson auch an diesem Abend viele poppige Songs mit Collins am Mikro aus, wie „Invisible touch“, „Mama“ oder „I can’t dance“. In der Konzertmitte sorgte eine sehr schöne Version von „The Carpet Crawlers“ für Gänsehaut, dagegen hätte Phil Collins‘ „In the Air tonight“ ein bisschen mehr Wumms vertragen können.

Gringo Meyer

Ray Wilson

Überhaupt streute Wilson gegen Ende hin gleich mehrere ruhige Songs hintereinander ein, als würde es Genesis an mitreißenden Songs fehlen. Dementsprechend sorgten bereits die ersten Töne von „Solsbury Hill“, mit dem auch Peter Gabriel traditionell seine Konzerte beendet, für Entzückung im Publikum, das Wilson und Band anschließend für eine Zugabe zurück auf die Bühne klatschte. Warum er aber bei einem Genesis Classic Konzert als erste Zugabe Bruce Springsteens „I’m on fire“ wählte, anschließend „Crazy little thing called love“ (Queen), übergehend in Dylans Klassiker „Blowing in the Wind“ und „Knocking on a heavens door“, wird wohl Wilsons Geheimnis bleiben. Auch wenn die Besucher kräftig einstimmten in diese allgemein bekannten Hits, hatten sie mit dem Motto des Abends nur wenig zu tun. Am Abend zuvor im Freiluftkino Berlin hatte Wilson an dieser Stelle im Programm noch den famosen Stiltskin-Hit „Inside“ zum Besten gegeben. Immerhin gab es aber als zweite Zugabe mit „Land of Confusion“ noch einen echten Genesis-Klassiker aus den Achtzigern, der das Publikum so richtig mitriss. Aber danach war es leider auch schon vorbei. Zeitgleich zum Gentleman-Konzert lud das MATTI KLEIN TRIO MEETS MAX MUTZKE zum großen Finale auf den Weckerlingplatz. Und groß war schließlich das, was diese musikalische Fusion ablieferte. Zwar gab es keinen musikalischen Bombast, wie am Vorabend bei der Jazzrausch Bigband, dennoch gefiel die Mischung, bei der Soul, Pop und Jazz auf der Zutatenliste standen. Gespielt von einer famosen Band und gesungen von der kräftig, samtigen Stimme von MAX MUTZKE. Am Ende waren sich nicht wenige Zuschauer darüber einig, dass dieses Konzert zu den definitiven Highlights des Wochenendes gehörte.

Für restlose Begeisterung sorgte zum Abschluss des diesjährigen „Jazz & Joy“ GENTLEMAN auf der Hauptbühne am Marktplatz. Wenn es noch eines echten Höhepunkts des Festivals bedurft hätte, hier war er. Nicht wenige Besucher hatten extra wegen des spät bekannt gegebenen Top-Acts des Sonntags eine Tageskarte erworben und sorgten für einen prächtig gefüllten Marktplatz. Pünktlich um 20 Uhr startete das Konzert traditionell mit zwei Songs, die von den beiden Backgroundsängerinnen vorgetragen wurden. Eine davon war Tamika, die Ehefrau von GENTLEMAN, der mit bürgerlichem Namen Tilmann Otto heißt. Erst zum dritten Song meldete sich der Frontmann quasi aus dem Off, um dann beim ersten regulären Song, „Uprising“, ganz entspannt die Bühne zu entern. Dass der international gefeierte deutsche Reggaestar die entsprechenden Frontmann-Qualitäten mitbringt, um von der ersten Sekunde an für gute Vibes zu sorgen und ein Publikum mitzureißen, wurde schnell deutlich. Die Stimmung pendelte sich schon frühzeitig auf Kurzweil ein, auf dem Marktplatz wurde getanzt, lauthals mitgesungen und ganz oft die Hände eingesetzt.

Gentleman

„Kann ich eure Hände sehen?“ mutierte zum Schlachtruf des Abends und die knapp 2.500 Besucher ließen sich nicht lange bitten. Einfach nur rumstehen, ist keine wirkliche Option bei einem GENTLEMAN Konzert. Mit „The Evolution“ kann er zudem auf eine eingespielte Band zurückgreifen, die mit dem entsprechenden Groove und den kraftvollen Blasinstrumenten die Zutaten für ein gelungenes Reggae-Konzert liefern. Keine Frage, die zahlreichen Besuche in seiner zweiten Heimat Jamaika haben ihre musikalischen Spuren hinterlassen, weshalb es GENTLEMAN im Laufe der Jahre geschafft hat, einen authentischen Stil zu entwickeln, der tatsächlich das Karibik-Feeling zum Klingen bringt und sich nicht einfach nur nach einer bil- ligen Kopie anhört. Vom Prinzip haben wir es also hier mit einem klassischen Fall von „kultureller Aneignung“ zu tun. Hätte man vor 20 Jahren schon so argumentiert wie heute, wäre aus dem gebürtigen Osnabrücker wohl nie ein inter- national gefeierter Reggaestar geworden, der auf Festivals in der ganzen Welt eingeladen wird. Seine Anfang der 2000-er erschienenen Alben „Journey to Jah“ und „Confidence“ zählen zu den erfolgreichsten Alben der deutschen Reggae- und Hip-Hop-Geschichte.

Derweil fügten sich auch die deutschen Songs aus seinem 2021 erschienen Album „Blaue Stunde“ nahtlos in das Programm ein. Aber um ehrlich zu sein, klingen GENTLEMANS Songs in Englisch run- der, wenn er sich dem jamaikanischen Dialekt „Patois“ bedient, sogar nahezu perfekt. Aus seinem letzten (wieder englischsprachigen) Album „Mad World“ wusste der Titelsong zu gefallen, der im Original von Tears for Fears stammt. Nostalgisch wurde es auch, als GENTLEMAN bei „To the Top“ den Eurythmics-Klassiker „Sweet Dreams“ einstreute und das Publikum sofort mit einstieg. Zum Ende des Hauptprogramms marschierte GENTLEMAN durch die Menge, schüttelte Hände, machte Selfies mit den Fans und zeigte sich gewohnt bodenständig. Da sich der ganze Abend bis dahin wie ein einziger Flow angefühlt hatte, wurde erst jetzt bei einem Blick auf die Uhr deutlich, dass laut Programmheft bereits seit einer halben Stunde hätte Schuss sein sollen. Aber warum auf die Uhr schauen, wenn ein süßlicher Duft über dem Marktplatz liegt und überall nur schwingende Hände, tanzende Menschen und lachende Gesichter zu sehen sind? Getreu dem Motto „Einer geht noch“ ließ sich GENTLEMAN für insgesamt vier Zugaben zurück auf die Bühne bitten, darunter die beiden All-Time Klassiker „Dem Gone“ und „Superior“. Ganz am Schluss durften dann zur letzten Zugabe Kinder aus dem Publi- kum auf die Bühne, um gemeinsam mit Band und Publikum den Bob Marley-Klassiker „Red- emption Song“ zu zelebrieren. Einen schöneren Abschluss für das diesjährige „Jazz & Joy“ hätte man sich nicht wünschen können.

Gentleman

FAZIT: Das Wetter stimmte, das Publikum zeigte sich wie immer bei Jazz & Joy super entspannt und das Programm konnte man getrost als rundum gelungen bezeichnen. Neben der Verpflichtung von namhaften Künstlern wie Ray Wilson oder Gentleman schaffte es Festivalleiter David Maier, nebst Helfern, ein stimmiges Programm zusammenzustellen. Auch die Organisation zeigte sich im Wesentlichen gelungen, auch wenn es beim Sonderkonzert wohl ein Kommunikationsproblem zwischen Security und Veranstalter gab. So wunderten sich nicht wenige Zuschauer, dass sie beim Betreten des Platzes mitgeteilt bekamen, dass sie bei Verlassen des Platzes, um beispielsweise beim um die Ecke stehenden Auftragsgriller etwas zu speisen, keinen Anspruch mehr auf Einlass hätten. Die veranstaltende KVG begründete dies mit einem Missverständnis, welches direkt nach Bekanntwerden geklärt worden sei. Abgesehen von dieser Irritation zeigte Jazz & Joy wieder einmal, dass es zweifelsohne zu den spannends- ten Festivals in der Region gehört.

 

Text: Dennis Dirigo, Frank Fischer, Fotos: Andreas Stumpf, Dennis Dirigo