Es war der Krieg in Syrien, der Angela Merkel dazu veranlasste, kraft ihrer Kanzlerschaft die Grenzen zu öffnen. Allein im Jahr 2015 strömten nach offizieller Statistik 890.000 Menschen nach Deutschland. Längst nicht alle kamen aus Syrien. Zusätzlich zu dieser Zahl addierten sich noch 50.000 sogenannte unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Einer von ihnen war der Syrer Waseem Rihani.
Als Waseem nach Deutschland kam, war er gerade 17 Jahre alt geworden. Zuvor lebte er in Homs, einer historisch bedeutsamen Stadt, mit damals rund 1,8 Million Einwohnern. Seine Eltern führten einen Elektrikerbetrieb, in dem auch sein Bruder arbeitete. Auch Waseem half gerne im elterlichen Betrieb, wenn der Schulunterricht vorbei war. Der junge Mann besuchte die 10. Klasse und plante, das Abitur zu machen. Wie viele Bürger in Homs protestierten auch sie gegen den Langzeitherrscher Baschar Assad und für Freiheit. Bereits 2011 schickte Assad Regierungstruppen in die Stadt, die früher als Inbegriff syrischer Gemütlichkeit galt. Von der war bald nichts mehr zu spüren, denn der Autokrat begann, die Stadt bombardieren zu lassen. Für Waseem kam der Krieg überraschend. In einem Moment fuhr er mit seinem älteren Bruder noch durch die Straßen der Altstadt und ließ sich Geschichten aus der ruhmreichen Vergangenheit erzählen, während seine Heimat schon ein paar Monate später in Trümmern lag. Für seine Eltern war klar, dass es für ihn in Syrien keine Zukunft gibt. Sein Bruder, der von Assads Militär gesucht wurde, befindet sich seit 2017 in der Türkei in Sicherheit. Waseems Reise sollte nach Deutschland gehen. Doch die war erstmal lang und beschwerlich. Mehr als 4.000 Kilometer legte er zurück, ehe er in Worms ankam. Die beschwerliche Reise führte ihn aus der Türkei zunächst zur mazedonischen Grenze, wo er erst mal von der Polizei festgenommen und mit Schlägen begrüßt wurde. Wieder in die Freiheit entlassen, konnte er mit einem Bus nach Belgrad reisen, von wo aus er sich, gemeinsam mit drei weiteren jungen Männern, zu Fuß durch ein Waldgebiet Richtung Ungarn aufmachte. Ungewiss entwickelte sich zunächst die weitere Reise. Nachdem sie eine Taxifahrerin fanden, die sie für 200 Euro pro Person nach Budapest fahren wollte, mussten sie die unangenehme Erfahrung machen, dass die Reise nach Deutschland auch gefährlich sein kann. Als die Fahrt losgehen sollte, standen plötzlich zwei fremde Männer vor ihnen. Sie fuhren dennoch mit. Mitten in einem dunklen Waldgebiet stoppte plötzlich das Taxi und die Männer bedrohten sie mit Schusswaffen und forderten von jedem weitere 1.000 Euro, die sie nicht hatten. In einem unachtsamen Moment nutzen die jungen Männer die Dunkelheit der Nacht und flüchteten in verschiedene Richtungen. Bis auf Kleidung, Geld und Ausweis aller Habseligkeiten beraubt, fand Waseem später eine Privatperson, die ihn für weitere 200 Euro nach Budapest brachte.
Ein Mafiahotel in Budapest
Dort sollte er zu einem Hotel, das von der ungarischen Mafia geleitet wird und sich wohl mit Duldung der Regierung exklusiv mit dem Weitertransport von Flüchtlingen beschäftigt. Nachdem ein weiteres Mal Euros den Besitzer wechselten, wurde er gemeinsam mit anderen Flüchtlingen nach Wien gefahren. Vom Roten Kreuz empfangen, bekam er erstmals nach der tagelangen Reise eine Schlafmöglichkeit angeboten, die er auch dankend annahm. Das Ziel Deutschland vor Augen, ging die Reise weiter nach München. In der bayrischen Landeshauptstadt wurden sie schließlich in Gruppen bis zu 40 Personen aufgeteilt. Nach einer mehrstündigen Busfahrt durch Deutschland fand sich Waseem in der Hansestadt Bremen wieder. Untergebracht in einer ehemaligen Kaserne in Bremen-Huckelried war er unter rund 200 weiteren Flüchtlingen der einzige Minderjährige. Zwei Monate verbrachte er dort, doch niemand interessierte sich für ihn. Auf dem Jugendamt hatte man ihn immer wieder mit einem späteren Gesprächstermin vertröstet, der niemals stattfand. „Niemand sprach mit mir oder interessierte sich für mich“, erzählt Waseem. Da er Bekannte in einer Flüchtlingsunterkunft in Ingelheim hatte, beschloss er, Bremen zu verlassen. In der Einrichtung, die für erwachsene Asylanwärter betrieben wird, wurde er allerdings nicht von seinen Bekannten begrüßt, sondern von der Polizei. Die brachte ihn wiederum in eine Jugend WG. Waseem hatte zwischenzeitlich schon fleißig Deutsch gelernt, was ihm auch ermöglichte, für andere Flüchtlinge zu dolmetschen. Das tat er auch in seiner nächsten Unterkunft, die in Worms-Rheindürkheim war. Sechs Monate verbrachte er in der Wohngruppe für junge Männer, die von der Caritas betrieben wird. Waseems Leben begann sich allmählich wieder zu normalisieren. Er besuchte eine Schulklasse im DRK Berufsbildungswerk, die speziell für Flüchtlinge mit dem Schwerpunkt Sprache eingerichtet wurde, und lernte, immer besser deutsch zu sprechen. In dieser Zeit absolvierte er auch ein Praktikum in den Redaktionsräumen unseres WO! Stadtmagazins. Nachdem Waseem 18 wurde und zwischenzeitlich eine Aufenthaltsgenehmigung hatte, entschied er sich, keine Jugendhilfemaßnahme mehr zu wollen. Heute ist Waseem Anfang 20, lebt in einer WG in Osthofen und hat mittlerweile den Hauptschulabschluss gemacht.
Kandel und Mannheim – Die hässliche Seite der Flüchtlingswelle
Doch nicht immer verlaufen die Lebenswege eines Flüchtlings so positiv. Ganz anders sieht die Situation des jungen Afghanen Abdul Mobin D. aus, der kurz nach Weihnachten 2017 in einem Drogeriemarkt im pfälzischen Kandel seine 15-jährige deutsche Ex-Freundin erstach. Auch er kam als minderjähriger Flüchtling hier an und gab 14 als Alter im Frühjahr 2016 an. Während Waseem allerdings über einen Personalausweis verfügte, hatte er keinen vorzuweisen. Ein Umstand, der bei vielen Flüchtlingen zutrifft. Besonders relevant ist dies bei Minderjährigen, da diese, sofern die Minderjährigkeit bestätigt wird, das Recht auf eine besondere Behandlung haben, die zugleich auch teurer ist. Zwar gibt es grundsätzlich die Möglichkeit einer medizinischen Altersfeststellung, doch die wird äußerst selten eingesetzt. Stattdessen setzt man auf Ehrlichkeit und einen professionellen Blick. Im Falle des jungen Afghanen gab es erhebliche Zweifel, sodass er zwischenzeitlich einer medizinischen Untersuchung unterzogen wurde. Tatsächlich ist er älter als angegeben, jedoch nach Behördenangaben immer noch unter 21 Jahren, sodass er weiterhin nach Jugendstrafrecht verurteilt werden kann. Auch Mannheim machte mit einem Teil seiner minderjährigen Flüchtlinge unangenehme Erfahrungen. Eine Gruppe von 10 bis 15 jungen Männern, überwiegend aus Marokko, hielt mit einer ausgesprochen hohen kriminellen Energie die Rhein-Neckar-Stadt monatelang in Atem. Oberbürgermeister Peter Kurz rief medienwirksam um Hilfe und warnte sogar vor einem „Staatsversagen“. Zwischenzeitlich wurde ein Teil der Gruppe in einer neuen Einrichtung untergebracht, verbunden mit der Hoffnung, dass sich die Situation bessert. Insgesamt betreut die Stadt derzeit rund 220 Minderjährige. Man könnte nun populistisch nach Abschiebung rufen, das ist aber bei minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen nicht möglich. Im Fall des Afghanen Abdul wurde der Asylantrag bereits im Frühjahr 2017 abgelehnt, zugleich griff allerdings ein Abschiebeverbot gemäß dem Aufenthaltsgesetz.
Aber wie ist die Situation in Worms?
In Anbetracht der problematischen Meldungen aus ganz Deutschland, wollte WO! wissen, wie die Situation in Worms ist und traf sich unter anderem mit Waldemar Herder, dem zuständigen Sozialdezernenten. In Worms sind aktuell 55 minderjährige Flüchtlinge untergebracht. Im Gegensatz zu anderen Kommunen gibt es offenbar in der Nibelungenstadt nur wenige Probleme. Ein Umstand, den Herder bestätigt. Sicherlich gäbe es auch hier das ein oder andere Problem, räumt er ein, betont aber, dass man ein sehr dichtes Betreuungsnetz hätte, wodurch offenbar Auffälligkeiten schon früh angesprochen werden können. Zu der dichten Betreuung gehört zum Beispiel, dass die Stadt zwei Mitarbeiter abgestellt hat, die sich ausschließlich um diese Gruppe kümmern. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn im Falle von Kandel sah das anders aus. Gesetzlich ist dem Jugendamt ein Betreuungsschlüssel bis zu 50 Personen erlaubt. In Neustadt, wo der junge Afghane in einer Jugendhilfeeinrichtung lebte, betreute der zuständige Mitarbeiter 47 Personen. Natürlich mag eine engmaschige Betreuung wie in Worms ihren Preis haben, doch Waldemar Herder findet hierfür eine griffige Argumentation: „Wen wir in diesem Alter verlieren, den werden wir nicht mehr zurückgewinnen und der Schaden wird deutlich größer sein“. Doch was kostet überhaupt die Betreuung? In den letzten Monaten war immer wieder vom Milliardengeschäft mit minderjährigen Flüchtlingen die Rede. „Der Steuerzahler finanziert sie, bis sie sich selbst ernähren können. Die diesbezüglichen Schätzungen besagen, dass die Hälfte in fünf bis zehn Jahren sich selbst ernähren kann, die andere Hälfte muss noch länger von Steuergeldern leben. Da kommen schnell 100.000 Euro als Vorleistung zusammen, die die Betroffenen über Steuern und Sozialabgaben nie werden aufwiegen können“, schrieb die DIE WELT am 3. Januar 2018 anhand einer gewagten Rechnung. Tatsächlich kostet natürlich jeder Flüchtling viel Geld, bei den Minderjährigen allerdings nicht wesentlich mehr als bei anderen Minderjährigen, die durch eine Jugendhilfemaßnahme betreut werden. Die Zahl schwankt je nach Unterbringungsform (stationär oder ambulant) und Träger zwischen 3.500 Euro und 5.000 Euro. In Worms sind 39 junge Menschen stationär, also in Wohngruppen, untergebracht. Grundsätzlich besteht in der Jugendhilfe die Möglichkeit, Maßnahmen bis zum 27. Lebensjahr zu verlängern, wenn dies als notwendig betrachtet wird. Eine enge Zusammenarbeit findet auch mit den Schulen statt. Für schulpflichtige Flüchtlinge gibt es aktuell zwei Angebote, die explizit für diese geschaffen wurden und in denen intensiv Deutsch gelernt wird. Eine Klasse findet sich im DRK Berufsbildungswerk, die auch Waseem besuchte, und eine weitere in der Karl-Hoffmann-Schule im BIZ. Nach dieser einjährigen Klasse werden die jungen Leute in das bestehende Schulsystem integriert. Natürlich sind das alles keine Garantien, dass es letztlich mit der Integration klappt, aber es sind Wege, die zum Erfolg führen können.
Eine Zukunft für Waseem?
Im Falle von Waseem scheint das Konzept zu funktionieren. Nachdem er den Hauptschulabschluss erfolgreich machte, ist nun sein Ziel, eine Ausbildung zu machen. Am liebsten als Elektriker, da er da seine Vorerfahrungen aus seiner Jugendzeit in Homs mit einbringen kann. Einen Platz zu finden, ist aber gar nicht so einfach. Zwar ist er sprachlich sehr sicher, dennoch gerät er bei Einstellungstests besonders bei Fragen zur deutschen Politik oder Geschichte noch ins Schlingern. Wahrscheinlich ist es aber auch zu viel erwartet, dass jemand in dieser kurzen Zeit sich ein Wissen aneignet, über das heutzutage noch nicht einmal deutsche Jugendliche verfügen. Dennoch ist Waseem ein positives Beispiel in Sachen Integration.