12. Juli 2017 | Olympiastadion in Berlin:
Trotz Dauerregens feierten 80.000 Besucher im Berliner Olympiastadion eine rauschende Party mit den irischen Stadionrockern von U2. Dabei stand das 30-jährige Jubiläum ihres 18 Millionen Mal verkauften Albums „The Joshua Tree“, das in voller Länge aufgeführt wurde, im Mittelpunkt. Aber irgendwie auch David Bowie.
Es gibt genug Gründe, U2 zu hassen. Während die einen Frontmann Bono seinen missionarischen Eifer vorwerfen, liegt es auch musikalisch seit einiger Zeit im Argen. Das letzte relevante Album, „All That You Can Leave Behind“, entstand vor 15 Jahren, danach war die Band mehr mit Soundspielereien als mit echten Songs aufgefallen. Zwar reichten ihre letzten Alben noch aus, um für ausverkaufte Stadien zu sorgen, aber die großen Hits in den Charts, die ein ganz junges Publikum erreichen, produzieren mittlerweile Coldplay. Auch was die Liveshows angeht, hat die Truppe um Chris Martin in der jüngsten Vergangenheit die Maßstäbe gesetzt, für die einst U2 zuständig waren. Umso überraschender war deshalb die Ankündigung der vier Iren, die seit 41 Jahren (!) in unveränderter Besetzung zusammenspielen, sich auf der Jubiläumstour zu ihrem kommerziell erfolgreichsten Album mehr auf die Musik konzentrieren zu wollen, was bei U2 heißt, dass man diesmal eine „nur“ 60 Meter breite LED-Wand am Start hatte. Diese durfte auch Special Guest „Noel Gallagher“ mit seinen „High Flying Birds“ benutzen, der bei seiner 50-minütigen Performance auf drei echte Oasis-Klassiker (+ „Half The World Away“) zurückgriff, die das noch spärlich vorhandene Publikum erstmals in Wallung brachten. Nach einer Viertelstunde das wunderschöne „Champagne Supernova“, später ein lieblos hingerotztes „Wonderwall“ als Fressen für die Masse, aber spätestens, als der alte Fuchs mit der Klampfe „Don’t Look back in Anger“ anstimmte, wurde auch den beinharten U2-Fans klar, dass der Mann selbst Stadien füllen könnte – nur eben mit seiner alten Band „Oasis“. Nach einer mehr als einstündigen Umbaupause hatten sich die Sitzplatzbesucher gerade noch von der letzten „La Ola“-Welle erholt, die durch das Olympiastadion geschwappt war, als Drummer Larry Mullen jr. die etwas kleinere, ins Publikum ragende Bühne betrat und nur wenige Taktschläge benötigte, um selbige mit dem Opener „Sunday Bloody Sunday“ direkt wieder aus ihren Sitzen zu reißen. Völlig unprätentiös kamen nacheinander Gitarrist The Edge, Sänger Bono und zuletzt Bassist Adam Clayton den schmalen Laufsteg entlang. Danach folgte mit „New Years Day“ ein weiterer All-Time-Klassiker der 80er aus dem Album „War“, ehe eine grandiose neunminütige Version von „Bad“, bei einbrechender Dunkelheit von einem Lichtermeer der Achtzigtausend begleitet, überging in David Bowies „Heroes“ (mit deutschem Part!) – eingeleitet mit den Worten: „Bowie brought us here to Berlin.“ Da die Band anschließend mit „Pride (in The Name of Love)“ noch den größten Hit, der kurz vor „The Joshua Tree“ entstand, hinterher feuerte, war die Stimmung nach einer halben Stunde längst wie bei anderen Bands bei den Zugaben. Wer sich nach dieser knackigen „Best-of-Ouvertüre“ aus der U2-Frühzeit gefragt hat, ob man das noch toppen kann, wurde fortan eines Besseren belehrt. Die als Filmrolle getarnte Videowand kam nämlich erst beim fünften Song zum Einsatz und durfte ihre volle Wirkung entfachen, als – mit feuerrotem „Joshua Tree“ im Hintergrund – die ersten Takte eines Albums erklangen, das in chronologischer Reihenfolge aufgeführt wurde und dessen erste drei Songs zum Pflicht-Liedgut einer ganzen Generation gehörten: „Where The Streets Have No Name“ (überwältigend!), „I Still Haven’t Found What I’m Looking for“ und „With or Without You“; die beiden Letztgenannten lebten einmal mehr von dem Wechselspiel zwischen der Band und dem stimmgewaltigen Publikum. Über dieses Albumintro schrieb der US-Autor und TV-Direktor Bill Flanagan (MTV Networks): „Alle drei Titel klingen wie Worte, die John Wayne in einem John Ford-Film sagt.“ Das meistverkaufte Album der Band hatte aber noch mehr zu bieten, z.B. das kantig rockende „Bullet The Blue Sky“, das die Schweinereien der Reagan-Regierung in El Salvador anprangerte. Oder das anmutig in sich ruhende „Running to Stand Still“ über die Heroinszene im Dublin der 80er Jahre. Vor dem verstörenden „Exit“ war ein Ausschnitt aus einem 50er-Jahre-Western zu sehen, in dem ein Lügner namens „Trump“ die Leute an der Nase herumführte. „Mothers of The Disappeared“ erzählt von den Müttern, die um ihre verschollenen Söhne trauern, weil in ihrer Heimat von Amerika bezahlte Diktatoren wüten. Nach dem letzten Song des Albums war nach knapp 90 Minuten vorerst Schluss auf der Bühne, derweil der Himmel immer noch unaufhörlich seine Schleusen öffnete. Dies tat der Stimmung genauso wenig einen Abbruch wie die etwas langatmige erste Zugabe „Miss Sarajevo“, weil danach mit „Beautiful Day“ (mit Snippet von Iggy Pops „The Passenger“), „Elevation“ und „Vertigo“ (mit Bowie-Snippet „Rebell Rebell“) noch drei veritable Hits aus den 2000ern folgten. Danach gab es noch einen kurzen Schwenk zu dem Anfang der 90er Jahre in Berlin entstandenen nächsten Meisterwerk „Achtung Baby“ mit „Mysterious Ways“ und „Ultraviolet (Light My Way)“. Als die Band dann, nach 130 Minuten, ganz am Schluss – bei ausgeschaltetem Stadionlicht – zusammen mit dem Publikum den vielleicht schönsten U2 Song „One“ anstimmte, da breitete sich ein letztes Mal Gänsehaut am ganzen Körper aus. Klar, ein bisschen auch vom Regen und dem mittlerweile etwas kälteren Berliner Abendwind; weniger, weil ein völlig durchnässter Bono pathetisch verkündet hatte: „We‘ll never forget this rainy summer night in Berlin.“ Das hätte auch so keiner der Anwesenden getan.
Fazit: Hervorragende Stimmung trotz Dauerregen, eine fanfreundliche Setliste und eine Band, die auch nach vier Jahrzehnten noch brennt. Die Besucher des binnen weniger Stunden ausverkauften, einzigen Deutschland-Konzertes von U2 erlebten in Berlin eine rauschhafte Zeitreise zurück in die Achtziger, als die Band noch Hymnen für die Ewigkeit schrieb.