Eine Pressemitteilung der Stadt Worms:
In diesem Jahr feiert die Stadt Worms 500 Jahre Reichstag. Der Umgang mit dem Gewissen nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Wie man mit seinem eigenen Gewissen umgeht war auch die zentrale Frage, der sich Victor Klemperer stellen musste. Als intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft dokumentierte er in „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ von 1933-1945 seine Alltagserfahrungen in der deutschen Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus, deren Veröffentlichung 1995 für Furore sorgten.
Klemperers Tagebücher sind „die am besten geschriebene, eindrucksvollste und aufmerksamste Aufzeichnung des täglichen Lebens im Dritten Reich“, so die New York Times. Sie sind eine Offenbarung des alltäglichen Schreckens in der nationalsozialistischen Gesellschaft. Der Intellektuelle und Chronist Victor Klemperer verzweifelte an seiner Zeit, kämpfte mithilfe des Schreibens seinen ganz eigenen Überlebenskampf. Sein Kämpfen, sein Schreiben hat weder Anfang noch Ende: die Situation ist ausweglos.
Der Wormser Schauspieler und Rezitator Karl-Heinz Deichelmann präsentiert im Rahmen der SchUM-Kulturtage, des Lutherjahres und des PopUp-Festivals eine Lesung der besonderen Art. In einer Dauerlesung in der ehemaligen Back-Factory in der Kämmererstraße 9-13 werden vom 17. bis 19. September, jeweils von 10 bis 22 Uhr, die gesamten Tagebücher Victor Klemperers rezitiert – ein Text von mehr als 1000 Seiten.
Die Zuschauer*innen sind eingeladen, zuzuhören und zu verweilen, dem Lesenden beizustehen oder weiterzugehen, die Veranstaltung immer wieder zu besuchen, sich dazuzusetzen oder zu widersetzen, oder eben – die Texte mit auszusitzen.
„Die Tagebücher haben vom ersten Moment einen ungeheuren Sog entwickelt und mich gefesselt. Sie haben mir klargemacht, wie schleichend und unmerklich das Grauen jener Tage immer grösser, unerträglicher, unfassbarer wurde und wie viele Gründe es für jeden Einzelnen gab, zu handeln wie er gehandelt hat: Nicht zu fliehen, sondern sich für das Bleiben zu entscheiden“, erläutert Karl-Heinz Deichelmann.
Wie er sagt, habe er keine Ahnung, was ihn erwartet: „Ich habe noch nie so lange am Stück gelesen – es ist das erste Mal hier in Worms, dass die gesamten Tagebücher Klemperers in einem Stück vorgelesen werden. Ich weiß nicht, welche Zuschauerreaktionen sich ergeben, wie lange meine Stimme mitmacht und ob und wie ich durchhalten werde. Es wird mit Sicherheit schmerzhaft, physisch und psychisch. Ist das nicht der Gemütszustand, in dem die Tagebücher geschrieben wurden? Eingeengt in einem kleinen, kargen Raum und nichts, als immer weiterzuschreiben.“