Text: Dennis Dirigo in Kooperation mit Prof. Dr. Bosch
Quelle: J.Bosch, Homepage der Stadt Worms
Es dürfte wahrscheinlich nur wenige gebürtige Wormser geben, denen das Wohngebiet Kiautschau im Wormser-Westen kein Begriff ist. Hinreichend bekannt ist auch der Ideengeber dieser ehemaligen Arbeitersiedlung, nämlich der Wormser Industrielle Cornelius Wilhelm Freiherr Heyl zu Herrnsheim. Weniger bekannt dürfte hingegen die Verbindung zu der chinesischen Ortschaft Jiaozho (Kiautschou) sein, die auch Namensgeberin der gleichnamigen Bucht ist und in der Provinz Shandong liegt, sowie die damit zusammenhängenden historischen Ereignisse.
Aus diesem Anlass gibt es ab dem 22. Mai 2017 bis zum 3. Juni unter dem Titel „Tianjin-Kiautschau“ mehrere Veranstaltungen zu der Verbindung Worms – China, u.a. in der Hochschule Worms, die von der Stadt Worms veranstaltet werden (die genaue Programmübersicht finden Sie im Terminkalender). Prof. Dr. Jürgen Bosch, ehrenamtlicher Leiter Arbeitskreis China AKC, überließ uns verschiedene Informationen zu dem Ablauf der historischen Ereignisse. Die kaiserliche Marine suchte nach einem Flottenstützpunkt in der oben genannten Region, zu der auch die damals kleine Stadt Qingdao (früher Tsingtau) gehörte, aber die durch die kaiserliche Regierung Chinas zu einer wichtigen Verteidigungsanlage ausgebaut wurde. Nachdem langjährige Verhandlungen mit Chinas Regierung scheiterten, beschloss man 1896 den deutschen Stützpunkt auszubauen. Allerdings brauchte man einen Anlass, um eine Invasion zu rechtfertigen. Diesen Anlass bot die Ermordung zweier Missionare in Shandong am 1. November 1897. Wenige Tage später erteilte Kaiser Wilhelm II den Befehl, in der Bucht von Kiautschou militärisch Fuß zu fassen. Am 14.11. erfolgte schließlich die Invasion. Das Gebiet wurde erobert, ohne dass ein Schuss fiel oder Blut floss. Qingdao wurde die Hauptstadt des „Deutschen Schutzgebiets Kiautschou“.
Nur einen Tag später fand in Worms die Gründungsversammlung für ein Arbeitersiedlungsvorhaben im Hotel „Zum alten Kaiser“ statt. Mit dabei unter anderem auch der Lederfabrikant Freiherr Heyl zu Herrnsheim. Nach zukunftsweisenden, modernen Gesichtspunkten sollten im Wormser Westen insgesamt 115 Zweifamilienhäuser entstehen, die mit einem kleinen Garten zur Selbstversorgung ausgestattet wurden. Gestaltet wurden die Fachwerkhäuser von dem bekannten Stadtbaumeister Karl Hoffmann. Wegen der Aktualität der Ereignisse in China am Vortag und des großen Interesses an den Neuigkeiten aus Fernost könnte damals schon der erste Funke dafür übergesprungen sein, der Siedlung den Namen „Kiautschau“ (versehentlich mit „au“ statt „ou“ am Ende) zu geben. Dieser Umstand ist allerdings historisch nicht belegt, liegt aber in Anbetracht der Namensähnlichkeit nahe. Gesichert ist hingegen, dass das beliebte Wohngebiet bis heute diesen historischen Namen innehat. Kiautschau ist ein ansehnliches Zeugnis weitblickender Initiative von Seiten der Wormser Unternehmerschaft, die sich mangels Aktivitäten kommunaler, staatlicher oder anderer Art gegen die drängenden Wohnungsnöte der Zeit zum Handeln entschloss. Die „Kiautschau-Siedlung“ gilt als das einzige als Arbeitersiedlung konzipierte Bauvorhaben aus der Zeit der Industrialisierung, das in Rheinland-Pfalz noch steht.
Vergangenheit ist indes die Besatzung der Deutschen in eben jenen chinesischen Gebieten. Am 6.März 1898 schloss man einen Pachtvertrag für 99 Jahre. Doch schon 16 Jahre später endete die Deutsche Besiedelung. Nach zunächst wehrhafter Verteidigung, musste man letztlich den Japanern gegenüber kapitulieren. Japan griff gemeinsam mit englischen und russischen Schiffen das deutsche Schutzgebiet an. Japan nahm die deutsche Besatzung gefangen und das Gebiet in Beschlag. Laut Informationen von der Homepage der Stadt Worms befanden sich unter den Kriegsgefangenen auch rund ein Dutzend Wormser Soldaten, die mehr als fünf Jahre in Gefangenschaft verbrachten, aber dennoch gut behandelt wurden. Der Legende nach begeistern sich die Japaner, inspiriert durch Chorgesänge der Gefangenen, seit jener Zeit für die 9.Symphonie Beethovens und den damit verbundenen Text des Dichters Friedrich Schiller. Heute ist Qingdao die Hauptstadt der Provinz Shandong und eine blühende Millionen Stadt, die über ein reiches städtebauliches und kulturelles Erbe aus dieser Zeit verfügt. Weltberühmt u.a. das Tsingtao-Bier. Die damalige Stadt Jiaozho (Kiautschou) selbst gehörte zwar nicht zu dem Pachtgebiet, sondern lag in einer Randzone, die mit besonderen Rechten für die Deutschen verbunden war. Bis heute ist dieser Name untrennbar mit der Wormser Arbeitersiedlung verbunden. Die Arbeitersiedlung selbst ist immer noch ein begehrtes Wohngebiet und ein eindrucksvolles Zeugnis der Vergangenheit.