Es ist schon eine seltsame Zeit, in der wir leben. Einerseits werden, ohne mit der Wimper zu zucken, Banken mit Milliardenbeträgen gerettet, andererseits geraten soziale Einrichtungen, deren Arbeit einen unschätzbaren Wert für unsere Gesellschafft haben, zunehmend in Situationen, in denen sie sich rechtfertigen müssen. Jüngstes Beispiel ist die Lebenshilfe e.V., die vor kurzem eine Studie veröffentlichte, in der die Arbeit der bundesweiten Einrichtungen unter wirtschaftlichen Aspekten gemessen wurde. Ein weiterer Aspekt, den es kritisch zu betrachten gilt, ist die von der Politik gewünschte Inklusion.
Prinzipiell sind Diskussionen über Formen der Integration behinderter Menschen immer begrüßenswert. Sicherlich hat auch die Frage nach wirtschaftlicher Transparenz ihre Berechtigung. Es sollte aber auch klar sein, dass soziale Arbeit nicht einfach vergleichbar ist mit der Wirtschaftlichkeit einer BASF AG. Die Arbeit mit behinderten Menschen in diesen Einrichtungen ist letztlich nur eingeschränkt messbar, dennoch beschloss die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätte für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM), eine Studie zur Wertschöpfung („Social return on investment“) in Auftrag zu geben. Hintergrund war, dass soziale Ausgaben gerne als „versenkte Mittel“ bezeichnet werden, aber auch der Landesrechnungshof diese Werkstätte immer wieder wegen mangelnder Transparenz kritisiert. Eine Kritik, die der Lebenshilfe Geschäftsführer Norbert Struck brüsk zurückweist und den Beirat unter dem Vorsitz von Klaus Hagemann (MdB a.D.) zu einem Beschluss veranlasste:
„Als einstimmiges Fazit des Beirats wird herausgestellt, dass eine rein auf Kostengesichtspunkten eingeschränkte Sichtweise auf diese Werkstätte der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung nicht oder nur unzureichend gerecht wird.“
Klaus Hagemann (MdB a.D.)
Nichtsdestotrotz stellte die Lebenshilfe die Studie der Öffentlichkeit vor. Grundlegendes Ergebnis der Studie ist, dass Sozialausgaben Investitionen von Steuermitteln sind, die auf verschiedenen Ebenen Mehrwerte schaffen. Simpel formuliert: 100,- investierte Euros erzeugen eine Wertschöpfung von 108,- Euro. Was genau die sozialen Investitionen bewirken, stellt die Studie aus vier Perspektiven dar. Zum einen wurden die Rückflüsse aus den Werkstätten an die öffentliche Hand untersucht. Das Ergebnis zeigt, dass über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern 51,- von 100,- Euro direkt wieder an die Gesellschaft zurückfließen. Bei den Werkstattbeschäftigten sind es von 100,- Euro Transferleistungen sogar 69,- Euro, die an die öffentlichen Kassen zurückgezahlt werden. Die dritte Perspektive berechnet, welche Kosten entstehen würden, wenn es das Werkstattangebot nicht gäbe. Ein Werkstattplatz kostet die öffentliche Hand rund 10.000 Euro im Jahr. Würde der Beschäftigte zuhause betreut werden, entstünden Betreuungskosten von rund 10.400 Euro. Ein Grund für diese Steigerung wäre, dass Angehörige behinderter Menschen nur eingeschränkt arbeiten könnten. Dadurch würden dem Staat Steuern und Beiträge aus Bruttolöhnen von ungefähr 2 Milliarden Euro entgehen. Die vierte Perspektive betrachtet diese Werkstätte als Wirtschaftsfaktoren, da sie Arbeitsplätze schaffen und Aufträge in die Region holen. Werkstätten und ihre Beschäftigte kaufen schließlich auch Waren und beziehen Dienstleistungen, was dazu führt, dass die regionale Wirtschaft mit angekurbelt wird. Die Wirtschaftsleistung und -kraft beschränkt sich nicht nur auf die Einrichtung selbst, sondern auch auf Zulieferbetriebe, bei denen ebenso Arbeitsplätze geschaffen werden. Letzten Endes kam man zu dem Ergebnis, dass die Teilhabeangebote der Werkstätte Sozialleistungen und wirtschaftliche Produktivität zu einem Kreislauf verbinden. Ebenso fördere man die Lebensqualität behinderter Menschen, die Unterstützung im Arbeitsleben brauchen.
Gerade in Hinblick auf diesen Aspekt ist die Lebenshilfe Worms ein vorbildlicher Betrieb und nimmt seine regionale Verantwortung sehr ernst. Projekte bzw. ganze Firmen wie Café L, Radhaus, Gärtnerei oder das Atelier Blau leben längst den von der Politik gewünschten inklusiven Gedanken, ohne dabei mit der Brechstange zu agieren. In der mittlerweile emotional aufgeladenen Debatte um das Thema Inklusion wirkt es zuweilen, als würde die Politik ein wenig zu kurzsichtig handeln. Vor sechs Jahren ratifizierte die Bundesregierung die UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Heute ist die deutschlandweite Realität, dass in den 16 Bundesländern rund 80 verschiedene Integrationsformen existieren, wie Jonna M. Blanck, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung feststellte. Auch ist das Verhältnis zwischen Inklusionsbefürwortern und Gegnern ziemlich zerrüttet, zumal über dieses Reizthema viel Halb- bzw. Unwissen verbreitet ist. Mathias Brodkorb, Bildungsminister von Mecklenburg Vorpommern, brachte es auf den Punkt:
„Wenn Sie nach einer Definition für Inklusion in Reinform fragen, ist das im Grunde ganz einfach, Inklusion ist Kommunismus für die Schulen.“
Mathias Brodkorb, Bildungsminister von Mecklenburg Vorpommern
Tatsächlich müssten die bisherigen Bildungsstandards und Schulformen zur Gänze in Frage gestellt werden. Das widerspricht wiederum dem politischen Wunsch nach einem Zentralabitur. Denn echte Inklusion kann nur geschehen, wenn jeder Schüler individuell betrachtet wird. Nicht nach Schwächen, wie es bisher der Fall ist, sondern nach Stärken. In seinem Buch „Haus der inklusiven Schulen“ erklärt Erziehungswissenschaftler Hans Wocken, dass nicht die behinderten Menschen fit für das System gemacht werden müssen, sondern umgekehrt das System für das behinderte Kind. Ein Umstand, von dem wir in unserer leistungsorientierten Gesellschaft meilenweit entfernt sind.
Es klingt dann auch etwas widersinnig, wenn das Ministerium für Soziales, Arbeit und Gesundheit RLP sich auf die Schultern klopft und betont, dass Rheinland-Pfalz bundesweit zu diesem Thema eine führende Stellung einnehmen würde und im gleichen Atemzug erwähnt wird, dass trotz umfangreicher Anstrengungen die Zahl von arbeitslosen Menschen mit Behinderung sogar gestiegen ist. Berechtigt ist auch die Frage, ob man behinderten Menschen wirklich einen Gefallen tut, oder ob es sich doch nur um eine ideologisch aufgeladene Diskussion handelt, bei der es um ganz andere Dinge geht? Was nützt es dem Lernbehinderten, wenn er aufgrund seiner Einschränkung in der Klasse abgehängt wird, am Ende möglicherweise sogar ausgegrenzt wird? Geht es nicht um den Willen der Eltern, die ihr Kind nicht mit dem angeblichen Makel Förderschule belasten möchten? Derzeit ist es in Rheinland-Pfalz wie in vielen anderen Bundesländern. Neben den klassischen Förderschulen gibt es seit geraumer Zeit die Realschule plus, den Zusammenschluss von Grund- und Realschule und das klassische Gymnasium. Eltern haben grundsätzlich die Wahlfreiheit, allerdings gibt es in den Realschulen plus nur ein bestimmtes Kontingent für Schüler mit Förderbedarf, ist dieses erschöpft führt der Weg unweigerlich in die Förderschule. Diese Entwicklung hat bewirkt, dass die Gymnasien immer besser besucht werden, was aber auch zu immer mehr Überforderungen junger Menschen führt.
Möchte man eine einigermaßen sinnvolle Inklusion etablieren, heißt das für die Länder, dass sie ziemlich viel Geld in die Hand nehmen müssen, denn zur Zeit fehlt es den meisten Schulen an entsprechend ausgebildetem Personal, was der Lehrerverband immer wieder kritisiert. Auch Unternehmen fühlen sich oft mit der Ausbildung behinderter Menschen überfordert. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Bundesagentur für Arbeit immer wieder neue Maßnahmen aus dem Boden stampft, bei denen lernbeeinträchtigte Jugendliche eine Ausbildung in der freien Wirtschaft absolvieren sollen. Da sich, wie erwähnt, das System nicht ändert, hält sich der Erfolg für die Agenturen bisher in Grenzen. Ironie dabei ist, dass Einrichtungen, die sich mit der beruflichen Rehabilitation junger Menschen auf professionelle Weise beschäftigen, durch steigenden Kostendruck und zum Teil unrealistische Forderungen der Agenturen, das Leben immer mehr erschwert wird und Personalschlüssel immer enger gesurrt werden. Eine solche Einrichtung ist das DRK Berufsbildungswerk in Worms, das auf die Ausbildung lernbehinderter Menschen spezialisiert ist. Wie wichtig und anspruchsvoll so eine Ausbildung ist, davon konnte sich vor kurzem Jan Metzler (MdB, CDU) ein Bild machen. Der sozial engagierte Politiker absolvierte ein Praktikum in einer Tischlergruppe, um vor Ort zu erleben, was diese Arbeit bedeutet. Im Gespräch mit WO! betonte der Abgeordnete, dass er sehr beeindruckt sei von den vielfältigen Herausforderungen für die Mitarbeiter und es in Anbetracht des Fachkräftemangels unerlässlich sei, dass solche Einrichtungen weiter staatlich gefördert werden. Metzler zeigte sich als Anhänger der gemäßigten Inklusion, wie sie im Moment überwiegend in Deutschland stattfindet.
Wie man im Übrigen Inklusion und Integration ganz einfach miteinander verbinden kann, zeigte am 02. August 2015 der Charity Walk, der von der Ahmadiyya Muslim Jamaat im Wormser Wäldchen organisiert wurde. An dem 3,5 km Lauf nahmen auch Behinderte der Lebenshilfe mit Erfolg teil. Die Gemeinde spendete zudem 500 Euro an die Einrichtung.