Es ist eine Krise, die den Charakter der Europäischen Union nachhaltig verändern kann. Während in Syrien der Krieg, mittlerweile unter Teilnahme Russlands, mit unverminderter Härte weitergeht, stranden an den Grenzen der Balkanstaaten immer noch zehntausende Flüchtlinge, die es in das sichere Europa treibt. Längst sind die meisten Staaten mit der Situation überfordert, doch bei all den Diskussionen und Verhandlungen vergessen viele, dass es um menschliche Schicksale geht, warum viele nicht gerade freiwillig ihre Heimat verlassen. Mir wurde die Gelegenheit eingeräumt, mit zwei Flüchtlingen ein Gespräch darüber zu führen, wie sie hier in Worms gelandet sind.
Zwei, die ihre Heimat verlassen mussten, und den beschwerlichen Weg nach Europa hinter sich haben, sind der Syrer Ahmad und der Ägypter Romany. Beide traten bereits im letzten Jahr die lange Reise an, da sie in ihrer Heimat im Moment keine Zukunft sehen. Ahmads Heimat war die vor dem Krieg 164.000 Einwohner große Stadt Idlib, gerademal 20 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Ahmad ist 24 Jahre alt. Wenn man mit ihm spricht, merkt man die Last des Erlebten. Seine Worte sind überlegt und nachdenklich. Sitzt man ihm gegenüber, könnte er rein äußerlich auch Norditaliener sein. Erst seine Sprache verrät die syrische Heimat und zeigt auch, welch eine Anstrengung es sein muss, die deutsche Sprache zu erlernen. Ahmad wie auch Roman besuchen in der Prinz-Carl Anlage täglich einen Deutschkurs. Ebenso sind sie häufige Gäste des Café International, denn Beiden ist wichtig, mit ihren Gastgebern ins Gespräch zu kommen. Bevor Ahmad nach Deutschland kam, studierte er Mathematik an der Universität von Aleppo. Nachdem er das Studium erfolgreich mit dem Bachelor abschloss, wollte er auf den Master hinarbeiten, um später im Maschinenbau zu arbeiten. Doch das war, bevor der Krieg über Idlib kam. Im Dezember 2013 verließ Ahmad schließlich die Stadt. Eine Entscheidung, die ihm nicht leicht fiel, zumal seine Eltern beschlossen, Syrien nicht zu verlassen. Da sie für ihren Sohn in dem von Gewalt und Terror geplagten Land keine Zukunft sahen, ermutigten und unterstützten sie ihn mit ihrem ersparten Geld. Die erste Etappe seiner Flucht führte ihn an die türkische Küste, von der aus es über das Meer nach Italien ging. Neun Tage dauerte die Überfahrt. Zusammengepfercht mit 2000 Menschen an Bord erreichten sie erschöpft Italien. Ausgestattet mit einer Telefonnummer, die er bei seiner Ankunft anrufen sollte, ging seine Reise weiter nach Deutschland, genauer gesagt in ein sogenanntes Basiscamp für Flüchtlinge in Gießen. Nach Worms kam er schließlich vor neun Monaten. Hier lebt er mit sechs weiteren Männern (vier Syrern und zwei Rumänen) in einer Wohngemeinschaft. Schlechte Erlebnisse habe er bisher nicht gehabt, vielmehr fühle er sich in Deutschland sehr gut aufgenommen. Mittlerweile ist er als Asylant anerkannt, dennoch möchte er irgendwann zurück nach Idlib. Das ist für ihn aber erst möglich, wenn Baschar al-Assad nicht mehr an der Macht ist, denn unter ihm sieht er keine Perspektiven für Syrien. Angesichts der derzeitigen Entwicklung ist dieser Wunsch weit entfernt. Noch heute sterben laut Ahmad täglich 30 bis 40 Menschen am Tag in Idlib. Sein Vater selbst ist vor vier Monaten gestorben. Als Verbindungsstelle zwischen Damaskus und Aleppo hart umkämpft, wird die Stadt derzeit von Anhängern der terroristischen Nusra Front besetzt. Angesichts des nicht endenden wollenden Krieges ist verständlich, dass bisher mehr als 4 Millionen Syrer ihr Land verlassen haben. In Deutschland suchen laut Angaben des Bundesinnenministeriums rund 150.000 Zuflucht.
Aus Ägypten nach Worms
Der Ägypter Romany ist seit einem Jahr in Worms. Er verließ 2012 enttäuscht seine Heimatstadt Kairo. In der demonstrierte er gemeinsam mit Freunden auf dem Tahrir Platz für ein freies Ägypten. Romany glaubte an den Arabischen Frühling, doch die Dinge entwickelten sich anders. Nach dem Sturz Mubaraks kamen die Muslimbrüder an die Macht. Und wieder ging der koptische Christ auf die Straße. Doch es waren schließlich nicht die friedlichen Demonstranten, die für einen Machtwechsel sorgten, sondern das Militär. Die stürzten nach einem Jahr den Machthaber Mohammed Mursi und übernahmen selbst die Macht. Heute denkt Romany, dass diese Entwicklung von Anfang an vom Militär geplant war und man den Arabischen Frühling für die eigenen Zwecke missbrauchte. Ein Frühling, der für den jungen Mann eine schmerzhafte Erfahrung werden sollte. Zwei Mal wurde er in ein Gefängnis für politische und religiöse Gefangene verschleppt. Einmal war er fünf Monate inhaftiert, beim zweiten Mal waren es drei. Niemand wusste, wo er war. Er selbst musste immer wieder Qualen aushalten, litt unter Schlafentzug oder wurde blind in einem Kellergewölbe herumgeführt und musste auf Kommando ins Blinde springen. Befreit wurde er letztlich von Rebellen, die das Gefängnis stürmten. Noch heute leidet er unter den traumatischen Erlebnissen. Um diese zu verarbeiten, wird er in Worms psychologisch betreut. Bevor sich sein Leben überschlug, studierte er in Kairo BWL. Nach erfolgreichem Studienabschluss machte er sich selbständig und eröffnete ein Fitnessstudio, was man seinen kräftigen Armen deutlich ansieht. Nach seiner Befreiung war ihm klar, dass er Ägypten verlassen muss. Bevor er nach Deutschland kam, verbrachte er ein Jahr in Italien, allerdings war die Lage dort katastrophal. Auf der Straße lebend und keine Arbeit findend, kämpfte er ums Überleben. Schließlich kam er nach Deutschland. Hier ist er seit diesem Jahr als Asylant anerkannt und lebt mit vier weiteren Personen in einer Wohnung. Romany hofft auch bald arbeiten gehen zu können. Eine Rückkehr in seine Heimat kann er sich nicht vorstellen, auch wenn seine beiden Brüder noch in Ägypten leben. Er glaubt nicht mehr daran, dass sein Land jemals ein freies Land sein wird. Eine Enttäuschung, die man ihm bei jedem Wort anhört. Er weiß, dass Integration ein langer Weg ist, genauso wie Ahmad. Beide wollen diesen Weg aber unbedingt gehen. Beide wissen, dass sie bei all dem Schrecklichen, das ihnen widerfahren ist, auch jede Menge Glück hatten. Ein Glück, das für viele Asylsuchende, die jetzt erst den langen Weg auf sich nehmen, nicht selbstverständlich ist.
Die aktuelle Situation in Worms
Das Jahr ist noch nicht zu Ende und die Zuweisung von Flüchtlingen ist bereits jetzt deutlich höher als im Vorjahr. Eine Entwicklung, die zurzeit alle Städte und Kommunen an den Rand ihrer Kräfte bringt und was ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer kaum zu bewältigen wäre, die aber auch zeigt, in welchem Zustand manche Teile der Welt sind. Niemand verlässt gerne seine Heimat, auch nicht die Hunderttausende aus Deutschland, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert sind und dort freundlich aufgenommen wurden. Flüchten heißt, immer ein Fremder in einem anderen Land zu sein, sein bisheriges Leben aufzugeben und darauf zu hoffen, einen Platz zu finden. Bis Ende Oktober fanden mehr als 500 Asylsuchende vorerst ihren Platz in Worms. Eine Zahl, die aufgrund ihrer rasanten Entwicklung die Frage aufwirft, wo man die ganzen Menschen unterbringen soll? Vierzehntägig werden Sie mit Bussen nach Worms gebracht; eine Geschwindigkeit, bei der die Stadt kaum mitkommt und was zu Entscheidungen führt, die von manchen Bürgern kritisch gesehen werden, wie jüngst der Entschluss, im Stadtteil Heppenheim die Turnhalle einer Grundschule zu nutzen. Bis das geplante Containerdorf auf dem Salamandergelände errichtet ist, wird es noch eine Weile dauern. An Alternativen mangelt es, die Stadt ist nach wie vor auf der Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten. So ist ein Umbau des Hessischen Hofes in Rheindürkheim geplant, sowie die Belegung der Nikolas Dörr Halle. Es bleibt ein sensibles Thema, das von allen Beteiligten viel abverlangt. Doch aufnehmen alleine reicht nicht. Auch müssen Flüchtlinge betreut werden, kommen sie doch oft, wie Romany, traumatisiert hier an. Und nicht zuletzt müssen sie lernen, sich in einer vollkommen neuen Welt zurechtzufinden. Es wird das Gesicht dieser Stadt verändern und setzt etwas voraus, was die beiden jungen Männer Ahmad und Romany im Gespräch mit unserem Magazin zeigten: Neugier und Offenheit – und zwar von beiden Seiten.