Es herrscht wieder Ausnahmezustand in Deutschland und auf der ganzen Welt. Denn in Brasilien findet seit Mitte Juni die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Und das Beste: Zum Redaktionsschluss waren sowohl die deutsche Mannschaft als auch der Gastgeber noch im Rennen. Das ist ganz wichtig, damit die Leute abgelenkt sind und sich nicht mit den Begleiterscheinungen auseinandersetzen, die eine Weltmeisterschaft in einem Land wie Brasilien – und vermutlich noch schlimmer 2022 in Katar – mit sich bringt.

Im Land des Samba und der immer fröhlichen Menschen sind Presseberichten zufolge bis zu 250.000 Menschen zwangsumgesiedelt worden, damit die Stadien errichtet werden konnten und um die Verkehrsinfrastruktur zu verbessern. Ausgerechnet die deutsche Delegation stand dem in nichts nach und bezog als einziges Team keine bereits vorhandene WM-Anlage, sondern ließ sich extra eine anfertigen. Mitten im Indianerland des Bundesstaates Bahia entstand Campo Bahia, das WM-Quartier der deutschen Nationalmannschaft. Direkt an der Kante zum Ozean wurde für den extra angelegten Trainingsplatz ein Stück Dschungel gerodet, weshalb morgens ein Trupp Sicherheitskräfte erst mal die Anlage nach giftigen Reptilien absuchen muss. Das alles ist aber noch harmlos im Vergleich zu dem, was der dänische Journalist Mikkel Keldorf in seinem Dokumentarfi lm „The Price of the World Cup“ aufgedeckt hat. Es gibt starke Hinweise, dass obdachlose brasilianische Straßenkinder vor der WM gezielt entführt und sogar ermordet wurden, um für ein besseres Straßenbild zu sorgen. Schließlich hatten sich 600.000 Fußballfans aus aller Welt angekündigt, da macht sich der Anblick der dort herrschenden Armut und von stehlenden Straßenkindern nicht besonders gut. Jürgen Grässlin, Autor des Buches „Schwarzbuch Waffenhandel“, hat am 03.06.14 in einem Interview (www.deutsche-wirtschafts-nachrichten.de) verlauten lassen, dass vor allem Deutschland davon profitiert, da die Schusswaffen für die brasilianischen Sicherheitskräfte vielfach von hierzulande stammen. Im aktuellen Jahresbericht von Amnesty International heißt es u.a., „dass die brasilianische Gesellschaft bis heute geprägt ist durch exzessive Gewaltanwendung und Folter seitens von Behörden, durch „Folter und andere Misshandlungen in den Haftanstalten, in denen grausame, unmenschliche und erniedrigende Bedingungen“ herrschen, durch „rechtswidrige Zwangsräumungen in städtischen wie ländlichen Regionen“ gegenüber Landarbeitern und indigenen Bevölkerungsgruppen. Im Zuge der Großereignisse haben Polizei und Armee auch mehrere Favelas in Rio besetzt. Diese Einsätze waren nicht selten von willkürlicher und gnadenloser Gewalt geprägt. So gab es mehrere Fälle, in denen Unschuldige von Sicherheitskräften per Kopfschuss mit einer Pistole regelrecht hingerichtet wurden.“ Wer möchte also in Anbetracht derartiger Behördenwillkür bezweifeln, dass die Ermordung der brasilianischen Straßenkinder tatsächlich stattgefunden hat?

Ein hoher Preis
Als vor zwei Jahren die Europameisterschaft in der Ukraine stattfand, machten Bilder und Presseberichte die Runde, wo auf offener Straße herumstreunende Hunde regelrecht abgeschlachtet wurden oder in Verbrennungsmaschinen landeten. Ebenfalls nur aus einem Grund: Damit die EM-Touristen diesen Anblick nicht erdulden mussten oder sogar von bettelnden Straßenhunden „belästigt“ wurden. Auch in Katar häufen sich die Presseberichte, über Arbeiter, die dort bis 2022 riesige Stadien zusammen mit einer WM-tauglichen Infrastruktur mitten in der Wüste bauen, unter katastrophalen Bedingungen hausen und für einen Hungerlohn bei teilweise 50 Grad auf dem Bau schuften müssen. Auch hier häufen sich die Presseberichte, Hunderte sollen bereits den Tod auf den oftmals schlecht gesicherten Baustellen gefunden haben. Laut der britischen Zeitung „The Guardian“ hat der Internationale Gewerkschaftsbund ITUC ausgerechnet, dass mindestens 4000 Gastarbeiter ihr Leben gelassen haben werden, ehe das erste WM-Spiel angepfiffen wird. Wenn für ein Fußballturnier Lebewesen und Natur Schaden davontragen, ist der Preis entschieden zu hoch. Die Frage ist deshalb nicht unberechtigt, warum die FIFA immer wieder Weltmeisterschaften in Länder vergibt, die aus dem Nichts die Infrastruktur für ein großes Turnier erschaffen müssen und schnell an ihre Grenzen stoßen?

Minusgeschäft für den Veranstalter
Um zum ersten Mal nach 64 Jahren wieder eine WM aus dem Boden zu stemmen, wird das Gastgeberland Brasilien geschätzte 14,5 Milliarden Euro investieren. Damit ist diese WM dreimal so teuer wie die 2006 in Deutschland. Der Grund liegt auf der Hand. Da in Deutschland Stadien, Verkehrsanbindung und Unterkünfte bereits weitestgehend vorhanden waren, musste nur nachgebessert, renoviert und modernisiert werden. In Ländern wie Brasilien, Südafrika, der Ukraine, Russland (2018) oder 2022 in Katar muss fast aus dem Nichts eine Infrastruktur für ein Großturnier geschaffen werden. Die große Frage ist jedoch, was damit passiert, wenn das Turnier vorbei ist? Hier lohnt sich ein Blick nach Südafrika, wo die für die WM 2010 überwiegend neu gebauten Stadien beschäftigungslos vor sich hin vegetieren. Ähnliches wird auch in Brasilien blühen. Dagegen erfreuen sich die Deutschen an den im Zuge der WM 2006 modernisierten Stadien, das Produkt „Bundesliga“ boomt wie nie – auch wegen der „aufpolierten“ Spielstätten. In Ländern wie Brasilien dagegen wäre das Geld in Bereichen besser aufgehoben, die dringend einer Förderung bedürfen, wie etwa Gesundheit, Bildung oder Nahverkehr. Aber nicht nur das. Ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung hat nicht einmal die Möglichkeit, an der WM teilzunehmen, da die exorbitant hohen Eintrittspreise viele der Einheimischen schon von vornherein ausschließen. Stattdessen wird das Geld aller Brasilianer in Stadien, Flughäfen oder Hotelanlagen investiert, denen nach dem ersten touristischen Boom nach der WM das gleiche Schicksal wie in Südafrika droht – sie verwaisen zunehmend. Zwar wird den gastgebenden Ländern im Vorfeld gerne versprochen, dass durch ein solches Großturnier Arbeitsplätze, Geld und Image steigen. Auf der finanziellen Seite bleibt nach einer WM davon aber wenig übrig. Südafrika sitzt momentan noch auf einem Schuldenberg in Höhe von 3 Milliarden Euro, der sich seit der WM vor vier Jahren aufgetürmt hat. Von nachhaltigen Effekten keine Spur.

Korrupte FIFA-Mitglieder
Apropos 3 Milliarden Euro. Genauso hoch ist der geschätzte Gewinn, den die FIFA mit der WM in Brasilien erzielen wird, schließlich gilt eine WM als eine der bestvermarkteten Veranstaltungen. Genau genommen gehört der Fußballweltverband, der übrigens steuerrechtlich immer noch als Verein gilt und deswegen weniger Steuern zahlen muss, zu denen, die am meisten von diesem Mega-Event profitieren. Das wird bereits bei der Vergabe der Weltmeisterschaft überdeutlich, hat man doch schon seit etlichen Jahren das Gefühl, dass längst nicht mehr der beste Bewerber gewinnt, sondern der, der am meisten Schmiergeld an die FIFA-Exekutivmitglieder zahlt. Die Führungsriege um Sepp Blatter wird derart von Korruptionsvorwürfen belastet, dass die Mitglieder der FIFA jeglichen Anfragen von Journalisten automatisch eine Abfuhr erteilen. Kein Kommentar. Wer will sich auch schon selbst weiter belasten? Dabei ist die Beweislast mittlerweile erdrückend. Während die Staatsanwaltschaft schon längst weiß, wer alles Schmiergelder für die Vergabe der WM nach Katar erhalten hat, hält sich die Führungsriege um Sepp Blatter angenehm zurück und verzichtet weitgehend auf Sanktionen. Eine Krähe hackt der anderen nun mal kein Auge aus…
„Die FIFA ist eine Einrichtung, die für Ungleichheit, Ungerechtigkeit und blinden Konsum steht. Sie unterstützt mächtige Finanzgruppen und Investoren auf illegale Art und Weise und ist durch korrupte Strukturen im öffentlichen und privaten Bereich gekennzeichnet.“ Clemente Ganz Lúcio, namhafter Gewerkschafter und Technischer Direktor für Statistik und Sozioökonomische Studien (DIEESE) (Quelle: t-online.de vom 12.06.14)

Ein WM-Boykott nützt nichts
Was also tun, wenn man ein derart perverses System – wie das der FIFA – nicht weiter unterstützen will? Einfach den Fernseher auslassen und die WM boykottieren? Was für ein Quatsch. Wenn, dann kann man sich allenfalls bei ARD und ZDF beschweren, die für geschätzte 150 bis 180 Millionen Euro (der genaue Kaufpreis wird von den Sendern nicht veröffentlicht!) die Übertragungsrechte für alle 64 Spiele der Fußball-WM in Brasilien gekauft haben. Um sich das leisten zu können, kassieren die Öffentlich-Rechtlichen jedes Jahr knapp 8 Milliarden Euro Zwangsgebühren von uns allen. Ob wir die WM schauen oder nicht. Wer der FIFA also mit Boykott droht, wird nur ein mitleidiges Lächeln ernten, denn zahlen müssen auch diejenigen, die sich überhaupt nicht für die die WM interessieren. Von daher unterstützen wir alle ein Produkt, das zugegebenermaßen ziemlich gut ist und dank richtig hochklassigem Fußball in der Vorrunde der WM 2014 Menschen in aller Welt fesselt. Umso schöner, dass sich in einem Sport, der zunehmend von Geld beherrscht wird, Underdogs wie Costa Rica, Chile oder Mexiko durchgesetzt haben, während etablierte Teams wie England, Italien oder Spanien bereits die Segel streichen mussten. Solange Brasilien noch im Rennen ist – wenn auch bisher sehr glücklich – wird sich auch die Kritik im Gastgeberland im Rahmen halten. Bei den Römern nannte man das früher „Brot und Spiele“, da sich das römische Volk insbesondere durch zwei Dinge, Getreide und Schauspiele, im Bann halten ließ. Solange die Brasilianer also noch von ihren Spielern gut unterhalten werden, ist alles okay. Aber wehe, die zum Erfolg verdammten Kicker vom Zuckerhut scheiden vorzeitig aus. Selbiges gilt natürlich auch für Deutschland, wo man Kritik an der WM so lange nicht hören will, wie das deutsche Team erfolgreich spielt. Was die FIFA angeht, kann man sich nur wünschen, dass möglichst bald wieder Idealisten in Führungspositionen kommen, die in erster Linie den Sport lieben und nicht das Geld, das man damit verdienen kann.