Kritik zur Uraufführung „Brynhild“ von Maria Milisavljevic

Lena Urzendowsky als Brynhild

Es war eine Szene, in deren Genuss lediglich die anwesenden Pressevertreter/innen am Ende der Medienprobe kamen, die aber durchaus Symbolcharakter hatte. Das Stück war gerade zu Ende, das Ensemble verließ die Bühne, während eine Darstellerin plötzlich stehen blieb. Es war die Performance Künstlerin Parisa Madani. Keck reckte sie den Fotografen und Journalisten zwei ausgestreckte Mittelfinger entgegen, welche durch ein „Fuck you all!“ unterstrichen wurden. Nur wenige Wochen zuvor erklärte die Regisseurin Pinar Karabulut im Gespräch mit unserem Magazin, dass es ihr primär darum gehe, klassische Sehgewohnheiten des Theaterpublikums zu unterwandern. Gemessen an dieser Aussage und dem „Fuck you all“, kann man dem Ensemble attestieren, diesem Anspruch auf ganzer Linie gerecht zu werden.

Keine Zeit für klassisches Theater

Bereits der Auftakt kündet hierbei von einer kompromisslosen Lust, das von Maria Milisavljevic verfasste Stück „Brynhild“ einer radikalen Modernisierungskur zu unterziehen. Monolithisch thront in der Mitte der Bühne eine riesige LED Leinwand auf der kryptische Computerbefehle zu lesen sind, die schließlich mit brynhild.exe beschlossen werden. Bereits an dieser Stelle, die klar auf den Kult Klassiker „Matrix“ verweist, bereitet Karabulut ihren Spielplatz des kunterbunten popkulturellen Zitatenreigens vor. Im Laufe der folgenden zweieinhalb Stunden Nettospielzeit kann man sich durchaus einen Spaß daraus machen, die unzähligen Anspielungen zu entschlüsseln. Oftmals zählt dabei die Pose mehr als das Narrativ. Doch im Mittelpunkt sollte natürlich die Handlung stehen und die beginnt zunächst recht klassisch und konfrontiert den Zuschauern mit einem zehnminütigen Intro, das abermals auf der Leinwand stattfindet und das Publikum in den tiefen Odenwald entführt. Dort legt sich Sigurd alias Siegfried (bubenhaft gespielt von Bekim Latifi) auf die Lauer, um den vermeintlichen Drachen Fafnir zu töten. Doch es zeigt sich, dass Fafnir ein ganz normaler Mensch ist. Okay, in der hünenhaften Gestalt des 1,97 Meter großen Ralf Moellers fällt dieser dann doch nicht so normal aus. Dennoch entspricht der charismatische Moeller als einzige Figur in dem Stück der Vorstellung einer klassisch angelegten Figur. Da ist es dann auch kein Wunder, dass der von seinem Ziehvater Reginn (überdreht sardonisch gespielt von dem Dänen Jens Albinus, als sei Reginn eine Mischung aus Gollum und Grima Schlangenzunge aus “Der Herr der Ringe”) aufgestachelte Sigurd, im Wahn einen echten Drachen vor sich zu haben glaubt und Fafnir, also den Hünen Moeller, niedermetzelt. Es ist zugleich der Abschied von einer traditionellen Erzählweise, die in den folgenden 140 Minuten durch einen assoziativen Erzählstil abgelöst wird, in dem die Pose und der Moment mehr zählt als eine stringente Narration. Dabei ist der Handlungsstrang um Sigurd und Reginn der mitunter spannendste Teil dieser Neuerzählung, die sich jedoch nicht auf das klassische Nibelungenlied bezieht, sondern auf die nordische Liederedda, ergänzt durch die Völsung Saga. Beides sind eher fragmentarische Sammlungen von Heldenliedern und könnten damit auch die sprunghafte Erzählweise erklären.

Ralf Moelle im Videoeinspieler als Fafnir

Wann ist ein Held ein Held?

Im Grund folgt „Brynhild“ drei Erzählsträngen, die nicht immer miteinander harmonieren, sich oftmals sogar gegenseitig behindern. Auf der ersten Erzählebene erlebt der Zuschauer die durchaus spannende Auseinandersetzung über die Verführbarkeit von Menschen. Reginn, der in seiner Darstellung wie ein böser Verwandter des Zauberers Merlin in der Inkarnation aus John Boormans „Excalibur“ wirkt, ist ein Verführer, der weiß, Sigurd mit Worten gefügig zu machen. Schon mehrfach zeigte die Geschichte, dass Menschen mit der bloßen Macht der Worte die Welt ins Verderben stürzen konnten. Auch Reginn instrumentalisiert für dessen Gier nach Gold und Macht den eigentlich eher schmalbrüstigen Sigurd, bis dieser glaubt: „Nichts wird mich aufhalten. Ich bin der Held. Ich bin der Auserwählte“. Wer nun einmal mehr an „Matrix“ denken muss, liegt nicht falsch. Denn damit wird zugleich eine weitere Frage in das weitläufige Auditorium auf der Nordseite des Wormser Doms geschleudert. Was macht ein Held zum Helden? Können wir unserem Schicksal entgehen oder laufen wir Menschen immer wieder in die Falle zwischen Erwartungen und einem fehlgeleiteten Selbstbild? Sigurd macht diesbezüglich im Laufe des Abends eine Entwicklung durch und beginnt, nachdem er der starken Walküre Brynhild begegnet, die er eigentlich nur besiegen möchte, sein Heldentum zu hinterfragen.

Bekim Latifi als Sigurd

„Das Leben ist oft traurig und doch schön“

Zu verdanken hat er dies einer Brynhild, die so gar keine Lust auf das ewige Kämpfen hat und von Theaterdebütantin und TV Star Lena Urzendowsky („Zoo“, „Luden“) in einer eigenwilligen Mischung zwischen romantisierender Melancholie und selbstbewusster Powerfrau mit klarer Bühnenpräsenz gespielt wird. Mit Sätzen wie „Das Leben ist oft traurig und doch schön“, der wunderbar Brynhilds Wesen erfasst, zeigt sich Milisavljevic  Stärke, mit wenigen Worten Figuren zu präzisieren. Unterstützt wird die Darstellung zudem von Urzendowsky physisch sehr präsentem Spiel. Denn, wie bereits oben erwähnt, liebt Karabulut die Pose, die von dem Schauspielern mal mehr, mal weniger Dominant beherrscht wird. Mit der Figur der Brynhild wird zugleich auch eine weitere Handlungsebene eröffnet, in der Autorin Milosavljevics sich zudem der bereits in Interviews angekündigten Leerstellen aus der Liederedda widmet. Gefüllt wird diese mit der Sehnsucht nach der wahren und echten Liebe. Was König Gunnar, der in seiner optischen Darstellung auch ohne weiteres in jedem Fantasy Franchise eine Heimat finden könnte, zu der im Grunde simplen Frage führt: „Wie entsteht die Liebe?“ Die Antwort bleibt das Stück indes schuldig.

Sie küssten und sie liebten sich

Geküsst und geliebt wird an diesem Abend aber dennoch reichlich. Das führt dann auch mal dazu, dass eine tieftraurige Brynhild erklärt: „Mein Herz spüre ich nicht mehr. Das habe ich kaputtgeliebt“. Um daraufhin zum Mikrofon zu greifen und in Anbetracht eines Sigurd, der sich gerade in Kriemhild verliebt, einen Song mit dem Titel „Heart to break“ in die laue Sommernacht hinauszuschmettern. Musik ist dabei ein gutes Stichwort, denn die spielt in Karabuluts Theaterwelt eine nicht unerhebliche Rolle. Verantwortlich dafür ist der Songwriter und Sänger Daniel Murena und seine beiden musikalischen Mitstreiter, die wie eine seltsame Mischung aus Daft Punk und den Leningrad Cowboys wirken. Ihr Sound pendelt wiederum zwischen ohrenbetäubenden Punk, rohen Grunge, Industrialsounds und dreckigem Wüstenrock. Sozusagen das akustische Äquivalent zur optisch überdrehten Inszenierung. Zugleich unterstreicht dieses Soundgewand einmal mehr Karabuluts unbändige Lust am Zitieren.

Laina Schwarz und Lena Urzendowsky

Stilmix und Geschlechterrollen

Da bereits am Anfang der Grundstein für eine computerfizierte Welt gelegt wurde, verwundert es dann auch nicht, dass das Bühnenbild einzelnen Elementen des Computerspiels „Minecraft“ nachempfunden ist und die Schauspieler zuweilen wie ferngesteuert als Zombies oder Computerspielfiguren über die Bühne gelenkt werden. Leider entsteht aus diesen vielfältigen Anspielungen selten etwas Eigenständiges. So wirkt es über weite Strecken, als würden Text und Bild nur selten zueinander passen. Zahlreiche Szenen an diesem Abend sind für sich genommen spannend anzuschauen oder eröffnen eine erzählerische Tiefe, die aber nicht durchgehend gehalten wird. Zu überdreht wirkt der Ansatz, aber auch der selbst auferlegte Anspruch, Geschlechterrollen aufzubrechen, ohne dabei den Figuren wirklich was in die Hand zu geben oder in den Mund zu legen. Es mag ein provokanter Gedanke sein, die Figur des eigentlich männlichen Hagen mit einer dunkelhäutigen Frau zu besetzten. Doch was nützt diese Idee, wenn die Figur für das Stück erstaunlich unbedeutend ist und zudem nicht überzeugend gespielt wird. Ähnliches gilt für Bless Amada, der seinem Odin mit seinem Spiel nicht die notwendige Aura eines Gottes verleihen kann. Da hilft es auch nicht , dass sich unter dem Kostüm ein durchaus eindrucksvoll modellierter Körper abzeichnet. Auch wenn man im Vorfeld beteuerte, nicht einfach einem woken Trend folgen zu wollen, drängt sich bei diesen Besetzungsgimmicks genau dieser Gedanke auf. Dann passt es auch, dass man die nordische Sagenfigur der Frigga mit einer iranischen Performance Künstlerin besetzt, die mit Make Up und Kostüm wie einer überzeichnete Darstellung des Hutmachers aus Tim Burtons „Alice im Wunderland“ Verfilmung wirkt. In diesem Kontext ist es dann fast schon irritierend, dass man Kriemhild mit der Schauspielerin Laina Schwarz erstaunlich konventionell besetzt hat.

Alles ist möglich, oder auch nicht

Am Ende dieses Premierenabends wird das Publikum schließlich mit einer klaren „alles ist möglich“ Botschaft in die Nacht entlassen. Was möglich gewesen wäre, wenn die Regisseurin den Worten der Autorin mehr vertraut hätte, lässt sich letztlich nur erahnen. Im Glauben, großes Theater zu inszenieren, in dem man die Regeln des Theater aushebelt, ist dem Team zwar ein kurzweiliges Stück gelungen, aber auch eines, das selten Kontakt zum Publikum findet. Ein nicht unerheblicher Grund ist dabei der allzu exzessive Einsatz der Leinwand. Das ist wiederum nötig, da wichtige Szenen in einem geschlossenen Diner spielen. Zwar steht das Diner auf der Bühne, allerdings verhindern rotgetönte Scheiben einen klaren Einblick, sodass auf der Bühne agierende Kameraleute, das Geschehen immer wieder für die Zuschauer einfangen muss. Das ist umständlich und verhindert eben oftmals eine Bindung zwischen Publikum und Ensemble. Wenn es das Ziel war, einfach nur zu polarisieren, kann man dem Team attestieren: „Mission erfüllt!“

vlnr: Bekim Latifi, Jens Albinus, Ruby Commey (Hagen), Martin Tagar (Band), Laina Schwarz, Bless Amada, Daniel Murena, Simon Kirsch (Gunnar), Parisa Madani, Safak Sengül

Text und Fotos: Dennis Dirigo