Als Anfang Januar zum ersten Mal Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegen den Erfolgsregisseur und ehemaligen Intendanten der Nibelungen-Festspiele, Dieter Wedel, laut wurden, war mein erster Gedanke: „Hat die Presse endlich einen deutschen Harvey Weinstein gefunden, den man – mit 40 Jahren Verspätung – durchs Ort treiben kann?“ Zwischenzeitlich sind die Vorwürfe aber so umfangreich und massiv, dass man nicht mehr von einem „Anfangsverdacht“ sprechen kann. Aus den Hinweisen werden zunehmend Beweise, die kein gutes Licht auf eine um Vertuschung bemühte Fernsehbranche werfen.
Die Dokumentationen der Wochenzeitung DIE ZEIT handeln inzwischen von 18 Fällen, wobei die Berichte der Frauen von üblen Schikanen und Demütigungen, über Körperverletzungen und sexuelle Attacken, bis hin zur Vergewaltigung reichen. Gestützt wird das Ganze auf weitere, neue Zeugenaussagen, ärztliche Atteste, die aus dieser Zeit stammen – u.a. von dem Promi-Arzt Dr. Müller-Wohlfarth – oder Anwaltsschreiben mit detaillierten Schilderungen der Vorkommnisse, die zwar an den zuständigen Sender gingen, aber offenbar folgenlos blieben. Nachdem Anfang Januar zunächst die Vorwürfe von nur drei Frauen im ZEIT Magazin dokumentiert wurden, äußerte sich Dieter Wedel noch sehr ausführlich und wies die Vorwürfe entschieden zurück. Kurz danach trat er als Intendant der Bad Hersfelder Festspiele zurück und erlitt, laut seiner Pressesprecherin, eine Herzattacke. Als dann neue Vorwürfe publik wurden, erklärte Wedel gegenüber der ZEIT, dass der Umfang der Darstellungen ein für seine Gesundheit und seine Familie erträgliches Maß überschritten habe. Deswegen werde er sich nicht mehr öffentlich äußern. Vor dem Hintergrund seines Gesundheitszustandes und seines fortgeschrittenen Alters ist das eine nachvollziehbare Entscheidung. Im Sinne der Wahrheitsfindung ist diese Haltung jedoch eine Katastrophe, zumal ein Schweigen, in Anbetracht der Masse an Vorwürfen, fast schon einem Schuldgeständnis gleich kommt. Aus anfangs drei wurden mittlerweile 18 dokumentierte Fälle und man hat das Gefühl, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist.
Warum so spät?
Eine Frage, die sich sehr viele Menschen in diesem Zusammenhang gestellt haben, lautet: „Warum berichten Opfer erst Jahrzehnte später über den erlebten Missbrauch?“ Die wohl simpelste Erklärung lautet, dass die Zeit endlich dafür gekommen ist, dass diese Leute überhaupt Gehör finden. Bereits bei den zahllosen Missbrauchsopfern der Katholischen Kirche waren es die ersten öffentlich gewordenen „Einzelfälle“, die sich im Laufe der Zeit zu einer Lawine entwickelten, weil sich immer mehr Leute getraut haben, über ihren eigenen Fall zu sprechen. Schließlich waren sie nun nicht mehr alleine. Das, was ihnen angetan wurde, war auch anderen passiert. Wie sich später herausstellte, hatten sich viele Missbrauchsopfer der Katholischen Kirche schon viel früher offenbart, aber wurden schlichtweg ignoriert. Auch in der Fernsehbranche scheint man den Machtmissbrauch von Männern jahrelang toleriert zu haben. Es war ein offenes Geheimnis, das aber keiner offiziell zugeben wollte. Wie aus internen Unterlagen hervorgeht, hat der Saarländische Rundfunk vor vier Jahrzehnten den Erfolgsregisseur Wedel gedeckt, weil man den Erfolg einer Produktion nicht gefährden wollte. Womöglich auch, weil es damals für die Meisten normal war, dass Männer Frauen beruflich schikanieren durften. Der Tagesspiegel schrieb in diesem Zusammenhang von einem „institutionellen Schweigen“, die FAZ von einer „Kultur der selbstverständlichen Übergriffigkeit von Männern“, während DIE ZEIT anmerkte: „Die meisten Schauspieler, es sei denn, sie sind sehr bekannt, sind bei jedem neuen Projekt abhängig von der Gunst der jeweiligen Produzenten, des Senders und des Regisseurs. Jeder Job könnte der letzte sein. So entsteht ein Machtgefüge, in dem ein hohes Maß an Zudringlichkeit auf ein hohes Maß an Willigkeit trifft.“
Aufarbeitung auch Jahrzehnte später noch wichtig
Jetzt sind die betroffenen Sender gefragt, lückenlose Aufklärung zu betreiben und dafür zu sorgen, dass so etwas in der heutigen Zeit nicht mehr vorkommt. Schlimm genug, dass in der Vergangenheit die Quote offensichtlich wichtiger war, als auf einen Missbrauchshinweis einzugehen. Zudem ist zu erwarten, dass auch die Staatsanwaltschaft München die in einem Fall noch nicht abgelaufene Verjährung nutzen wird, um die Sache juristisch aufzuarbeiten. Zwar werden die jüngsten Enthüllungen für Insider nicht wirklich überraschend sein, schließlich gibt es seit Jahrzehnten die Geschichten von der Besetzungscouch, die im Übrigen auch nicht wenige Frauen bewusst als Sprungbrett benutzten, oder von Schauspielerinnen, die unaufgefordert ihre optischen Reize ins Spiel brachten, wenn es um eine Rollenbesetzung ging. Das, was Wedel gemacht haben soll, war aber erzwungener Sex. Und das ist nun mal ein Verbrechen. Egal, ob in der Filmbranche oder im Hinterzimmer einer Bankfiliale.