bundestagswahl 2021

Stimmungsbericht zur Bundestagswahl am 26. September 2021

Stell dir vor, am 26. September 2021 sind Bundestagswahlen und viele Wähler*innen wissen noch nicht, wen sie wählen sollen. In Anbetracht dreier Kanzlerkandidaten, die allesamt nicht ohne Schrammen durch den bisherigen Wahlkampf gekommen sind, scheint mehr denn je die Suche nach dem kleinsten Übel gefragt zu sein. Wer soll also Deutschland zukünftig regieren?

Als die Grünen am 19. April 2021 bekanntgaben, dass sie mit ANNALENA BAERBOCK als Kanzlerkandidatin in die Bundestagswahl gehen, da schnellten die Umfragewerte derart in die Höhe, dass die Ökopartei zwischenzeitlich sogar auf Augenhöhe mit der Union war. Vielleicht war es die Freude am Neuen, an einem unverbrauchten Gesicht, das viele Wähler/innen auf eine bessere Zukunft hoffen ließ. Aber die Euphorie währte nicht lange. Als hätte die deutsche Presse nur darauf gewartet, die grüne Kanzlerkandidatin zu zerlegen, wurde man schnell in Baerbocks aufgehübschtem Lebenslauf fündig, woraufhin diese sich genötigt sah, inhaltliche Korrekturen vorzunehmen. Im Mai 2021 wurde bekannt, dass sie der Bundestagsverwaltung Nebeneinkünfte von mehr als 25.000 Euro aus ihrer Funktion als Co-Parteivorsitzende nachgemeldet hatte. Während die Grünen seinerzeit öffentlich gefordert hatten, die Nebeneinkünfte von Abgeordneten auf „Euro und Cent“ offenzulegen, bezeichnete Baerbock die verspätete Nachmeldung ihrer Nebeneinkünfte als „Fehler“ und „blödes Versäumnis“. Mitte Juni veröffentlichte Baerbock ihr Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“, in dem sie ihre politischen Ziele vorstellt, gepaart mit persönlichen Erfahrungen. Bereits Ende Juni wurde sie Plagiatsvorwürfen ausgesetzt, denn der Journalist Stefan Weber hatte eine Liste mit Textstellen veröffentlicht, die er als Urheberrechtsverletzungen bezeichnete. Baerbock wies die Vorwürfe zurück, da sie nur Fakten aus öffentlich zugänglichen Quellen übernommen habe. Bevor die grüne Kanzlerkandidatin über ihre Politik reden konnte, hatte sie nun in erster Linie ein „Glaubwürdigkeitsproblem“, das dementsprechend auch ihre Umfragewerte wieder fallen ließ. Also sahen sich die Grünen offensichtlich veranlasst, verstärkt den Zweiten des Spitzenduos in den Wahlkampf einzubinden, getreu dem Motto: „Wir schnippeln ein bisschen mehr Robert Habeck in die dünne Suppe, damit die Wähler denken, dass sie zwar Baerbock wählen, aber ganz viel Habeck erhalten.“ Dann kam die Flutkatastrophe und womöglich hat der Klimawandel noch rechtzeitig vor der Wahl seine hässliche Fratze gezeigt, um das Ruder doch noch rumreißen zu können. Eine Chance der Grünen besteht darin, den Wahlkampf auf eine Sachebene zu bringen und in der Schlussphase vermehrt auf das Thema Klimapolitik zu setzen. Hierzu fordert Baerbock ein Tempolimit von 130 km/h, einen Kohleausstieg bis 2030 und für das gleiche Jahr strebt sie nur noch die Neuzulassung emissionsfreier Autos an. Zudem sollen sich Agrarsubventionen am Gemeinwohl orientieren, nicht mehr an der Fläche. So soll es Bäuerinnen und Bauern möglich sein, mit Klimaschutz Geld zu verdienen, während Tierbestände und Fleischproduktion sehr deutlich reduziert werden. Ob es an der Kanzlerkandidatin liegt oder doch eher an der Regulierungswut, die ihnen viele Bürger vorwerfen, auf jeden Fall sind die Grünen die Partei, die am meisten polarisiert. Dass diese Popularität auch dazu reicht, nach der Bundestagswahl erstmals eine grüne Kanzlerin in der Geschichte des Landes stellen zu können, bleibt abzuwarten. Für eine Regierungsbeteiligung sollte es für die Grünen aber diesmal reichen, sofern CDU/CSU und SPD nicht so stark werden, um eine Große Koalition bilden zu können.

VOM UNDERDOG ZUM FAVORITEN?

Geht es nach den jüngsten Umfragen, hat ein Kandidat derzeit die besten Chancen, der im bisherigen Wahlkampf vor allem dadurch aufgefallen ist, dass er nur sehr wenig aufgefallen ist. Die Rede ist vom Kanzlerkandidaten der SPD, OLAF SCHOLZ, der in erster Linie von der anhaltenden Schwäche der CDU/CSU profitieren konnte. Von allen drei Kanzlerkandidaten bringt er die meiste Erfahrung mit. Seit März 2018 ist Scholz Stellvertreter der Bundeskanzlerin und Bundesminister der Finanzen. Bereits im August letzten Jahres wurde Scholz auf Vorschlag der Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vom Parteivorstand als Kanzlerkandidat nominiert. Der Grund war relativ simpel. Da der Parteidoppelspitze das nötige Charisma fehlt und Scholz zu diesem Zeitpunkt der beliebteste SPD-Politiker war, fiel die Wahl auf einen alteingesessenen Sozialdemokraten, der eher dem konservativen Flügel der Partei zugerechnet wird. Dass Scholz während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder als Verfechter von dessen Reformpolitik galt und die Hartz IV-Gesetze als „vernünftig und ausgewogen“ bezeichnet hat, macht ihn beim linken Parteiflügel nicht unumstritten. Trotzdem wurde Scholz auf einem online abgehaltenen Parteitag am 9. Mai 2021 mit 96,2 Prozent der abgegebenen Stimmen als Kanzlerkandidat bestätigt. Seitdem herrscht unter den Sozialdemokraten eine nie gekannte Einigkeit. Wohlwissend, dass man ohnehin keinen besseren verfügbaren Kanzlerkandidaten hat, sind die sonst üblichen internen Streitereien bisher ausgeblieben. Auch die Presse hat den SPD-Kandidaten weitestgehend verschont, obwohl dessen Mitwirken bei der Hamburger Cum-Ex-Affäre um die Privatbank M.M.Warburg & CO nach wie vor als fragwürdig gilt. 2016 hätte das Hamburger Finanzamt von der Warburg 47 Millionen Euro zurückfordern können, die aus illegalen Cum-Ex-Geschäften stammten, ließ diese Millionenforderung aber verjähren. Wie der SPIEGEL nun Ende August berichtete, gibt es offenbar neue Indizien, dass der Hamburger SPD-Bürgermeister Tschentscher als Finanzsenator in den brisanten Steuerfall eingegriffen und die Behörden dazu veranlasst, keine Steuerforderungen an Warburg zu stellen. Für seinen Vorgesetzten Scholz bedeutet dies, dass die nächsten Wochen durchaus noch ungemütlich werden können. Davon abgesehen ist Olaf Scholz durchaus jemand, der weiß, wie man sozialdemokratische Herzen gewinnen kann. So setzt er sich ein für eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro und seit 2018 für eine globale Mindeststeuer, die weltweit immer niedrigere Steuersätze verhindern soll. Diese Bemühungen wurden im Sommer 2021 belohnt, als 131 Länder unter dem Dach der Industriestaaten-Organisation OECD zustimmten, Anfang Juli 2021 einigten sich auch die G20-Staaten auf eine globale Mindeststeuer, die zu großen Teilen auf die Arbeit von Olaf Scholz zurückzuführen ist. In diesem Jahr stellte er sich gegen Vorschläge des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums, das Rentenalter auf 68 Jahre anzuheben. Außerdem forderte er, das Rentenniveau mit Hilfe von Streuzuschüssen nicht wie bisher nur bis 2025, sondern bis ins Jahr 2040 auf 48 Prozent zu stabilisieren. Auch zum Thema Klimawandel hat sich Scholz positioniert und ein Klimaschutzgesetz ins Kabinett eingebracht, das eine Minderung der CO2-Emissionen um 65 Prozent bis 2030, eine Minderung um 88 Prozent bis 2040 und Klimaneutralität bis 2045 vorsieht. Trotzdem sollte man von Scholz, der als Pragmatiker gilt, keine großen Visionen erwarten, allenfalls handwerklich gute Arbeit.

LASCHET IM STURZFLUG

Derweil hatte der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, ARMIN LASCHET, in den letzten Wochen zwar deutlich mehr Publicity zu verzeichnen als Scholz, aber zumeist eben negative. Angefangen hat dies mit Laschets Lachen im Hintergrund bei Steinmaiers Trauerrede für die Opfer der Flutkatastrophe, das ihm viele Bürger übelgenommen haben. Seitdem scheint es, dass der von Söders Gnaden ernannte Kanzlerkandidat kaum ein Fettnäpfchen auslässt, das nicht anschließend von der Presse breit ausgeschlachtet wird. Zum Beispiel, wenn Laschet, nach dem Klimawandel gefragt, ins Wanken gerät, weil seine Partei dieses Thema in ihrem Wahlprogramm nur sehr stiefmütterlich behandelt. Als Laschet im Januar das Amt des Parteivorsitzenden übernahm, lag die CDU/CSU noch bei knapp 40 Prozent, laut letzten Umfragen hat sich dieser Wert fast halbiert. Deshalb fordern, ebenfalls einer Umfrage zufolge, 70 Prozent der Unterstützer von CDU und CSU noch vor der Bundestagswahl einen Kandidatenwechsel – hin zum bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Alleine Armin Laschet die Schuld an dem drohenden Wahldesaster zu geben, wäre allerdings nicht fair, denn zu dem Absturz hat sicherlich auch die aktuelle Politik der Bundesregierung beigetragen, für die er als Ministerpräsident eigentlich gar nichts kann. Während aber der SPD-Kandidat Olaf Scholz als Finanzminister sogar der aktuellen Regierung angehört, hat sich diese Tatsache bisher kaum negativ für ihn ausgewirkt. Dagegen muss Laschet als Sündenbock herhalten, weil die Wähler nun mal nachtragend sind und die Maskenaffäre innerhalb der CDU/CSU noch nicht vergessen haben. Mittendrin war seinerzeit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, der im letzten Jahr ohne vorherige Ausschreibung einen über 40 Millionen Euro schweren Auftrag zum Kauf von Corona-Schutzausrüstung an das Textilunternehmen Van Laack vergab. Ende 2020 kam schließlich heraus, dass der Auftrag durch Vermittlung von Laschets Sohn Johannes zustande kam, der für Van Laack als Influencer arbeitet. Laschet verteidigte sein Vorgehen, dass man sich in der damaligen Notsituation „die Hände wund telefoniert“ habe, so dass eine nachträgliche Umdeutung „unanständig“ sei. Weder sein Sohn noch er selbst hätten Honorare für die Kontaktvermittlung erhalten. Trotzdem wird auch Laschet ein Stück weit dafür büßen müssen, dass sich Politiker seiner Partei in der größten Krise des Landes in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Das größte Problem der CDU/CSU ist aber eher die Frage, wofür die Partei eigentlich steht, außer für Wirtschaftslobbyismus, wobei man während der Corona Krise eher sein Herz für Global Player als für den Mittelstand gezeigt hat. Bereits Anfang des Jahres stellte Laschet weite Teile seiner Wirtschaftspolitik vor, die u.a. einen „5-Punkte-Plan“ vorsieht und Deutschlands Wirtschaft fit machen soll für die Zukunft. Dazu zählt eine Stärkung der Digitalisierung, Förderung von Startups durch mehr staatliches Wagniskapital, sowie Steuersenkungen für Unternehmen in strukturschwachen Regionen und ein „Belastungsmoratorium“ für Unternehmen, das weitere Steuern und Abgaben verhindern soll. Zudem sollen die Unternehmenssteuern auf maximal 25 Prozent begrenzt werden. „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ wirbt Laschet in seiner aktuellen Kampagne und man fragt sich unweigerlich, wessen Politik dafür gesorgt hat, dass das Land tief gespalten ist und in Sachen Digitalisierung anderen Ländern weit hinterherhinkt?

KAUM SACHTHEMEN

Kein Wunder, dass – vor dem Hintergrund der Selbstmontage der Kandidaten – im bisherigen Wahlkampf die Sachthemen ein wenig zu kurz gekommen sind. Dabei gäbe es durchaus Themen, die für Wähler interessant sind. Angefangen beim Klimawandel, der uns in den nächsten Jahren noch intensiver begleiten wird, bis hin zu den massiven Eingriffen in die Grundrechte der Bürger im Zuge der Corona Pandemie, für die längst nicht jeder Verständnis zeigt. Vor allem aber gilt es, mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch weiter auseinanderklafft. Womöglich interessieren sich viele Wähler aber gar nicht so sehr dafür, was eine Partei in Zukunft umsetzen will (und dann doch nicht tut…), sondern eher für die Politik, für die man in der Vergangenheit stand. Von daher steht zu erwarten, dass sich gut ein Drittel der Wähler/innen für keine dieser drei Parteien entscheiden wird und stattdessen ein Kreuz bei der FDP, den Linken, bei DIE PARTEI, Die Basis, der Tierschutzpartei oder einer anderen der kleineren Parteien machen wird. Da bis dato alle drei Kanzlerkandidaten nicht ohne Blessuren durch den bisherigen Wahlkampf gekommen sind und niemand die Wähler/innen so wirklich überzeugen konnte, scheint das Rennen vier Wochen vor der Bundestagswahl noch absolut offen zu sein. Fakt ist jedoch, dass einer von den drei Kanzlerkandidaten das Erbe von Angela Merkel antreten wird.