Eine Pressemitteilung der Caritas Worms:

Günther M. ist ein großer Mann, zehn Jahre jünger als Mick Jagger, wie er sagt. Er trägt schwere Ringe, Lederarmbänder blitzen an den Rändern seines sportlich schmal geschnittenen roten Sweatshirts auf, das er zu dunkler Jeans und neuen schwarzen Turnschuhen trägt. Der graue Bart ist frisch getrimmt, die Haare kurz geschnitten; seine Zeigefinger lassen erahnen, dass er zu viel raucht. Doch das ist wohl das kleinste Übel, mit dem er zu kämpfen hat. Seit 50 Jahren ist es der Alkohol, der sein Leben bestimmt. Bestimmte. „Ich war ein haltloser Säufer“, sagt Günther M. direkt und lässt den Blick durch den Gruppenraum der Caritas-Suchtberatung schweifen.

Seit zwei Jahren kommt Günther M., der eigentlich anders heißt, regelmäßig ins Psychosoziale Zentrum in der Wormser Renzstraße – seit er allein 2021 dreimal in der Rheinhessen-Fachklinik in Alzey aufgeschlagen ist. Schulden, die massive Alkoholabhängigkeit, zu guter Letzt Obdachlosigkeit: Es ging nichts mehr, sagt er, während er seine zitternden Hände unruhig im Schoß knetet. Nach einer kurzen Pause blickt er auf und zitiert den ersten Grundgesetz-Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich habe sie mir selbst genommen“, sagt er.

Günther M. hält oft inne, bevor er antwortet, unterbricht sich selbst, um sich noch einmal verständlicher auszudrücken, wenn er in Erinnerungen abschweift. Wenn er spricht, schaut er seinem Gegenüber in die Augen. „2016 wurde ich zum letzten Mal geschieden“, sagt er – danach sei er ins Bodenlose gefallen, alles auseinander gebrochen. „Wenn man gar keinen Halt mehr hat, stürzt man ab, dann fällt die Fassade“, sagt er, und die Worte kommen ihm stockend über die Lippen, als er von Einsamkeit, Wohnungslosigkeit und Scham berichtet. Dass er lieber draußen geschlafen habe, als auf dem Heimweg andere Menschen im Bus mit seinen Ausdünstungen zu belästigen; wie er sich von einer Bockwurst und Wodka ernährt habe, irgendwann nur noch flüssig, bis die kleine Rente nicht mal mehr dafür reichte, weil er dennoch immer weiter versuchte, seine Schulden abzubezahlen. Auch um seine Nachkommen nicht zu belasten. „Ich will nicht, dass sie irgendwann sagen: Jetzt ist er weg, war eh nie da, und hat uns auch noch so viel Mist hinterlassen. Das ist mein größter Antrieb“, sagt Günther M.

Diese drückende Last ist es schließlich auch, die ihn zum Caritasverband Worms führt. In der Schuldnerberatung fällt das Alkoholproblem schnell auf, die Räder klicken ineinander, viele Hände greifen Günther M. unter die Arme. Privatinsolvenz, regelmäßige Beratung, Gespräche, nach denen er sich besser fühlt. Wahrgenommen, wertgeschätzt: Der Nebel lichtet sich. „Vor zwei bis drei Jahren hätten nicht viele daran geglaubt, dass Sie das schaffen“, erinnert sich Mirko von Bothmer, der die Suchtberatung und -prävention im Caritasverband Worms leitet, und lächelt. „Ich auch nicht“, sagt Günther M.

Dabei hatte er schon viele Anläufe genommen, aus seiner Sucht herauszukommen. Langzeitentwöhnungen, Entgiftungen, Therapien: Nichts hilft auf Dauer. Immer wieder verfällt er dem Alkohol. Wenn er zwischendurch nicht mehr kann, sucht er Hilfe etwa im Caritas-Gesundheitsladen, weil er längst durch die Maschen des Sozialsystems gefallen ist und ohne Krankenversicherung dasteht. Soziale Kontakte hat er kaum, obschon er seit gut fünf Jahren in der Nibelungenstadt lebt. Jede Art von Tagesstrukturen wehrt er massiv ab – wohl auch, weil sie ihm in fünf Dekaden zwischen Suff und Selbstverleugnung längst fremd geworden sind.

Auch heute noch lebt Günther M. in den Tag hinein, macht keine Pläne. Und dennoch: „Mir geht es gut“, sagt er. Und: „Ich bin stolz wie Oskar.“

Ob er glaubt, dass er es diesmal schafft? „Ich weiß, dass am 24. Dezember Weihnachten ist“, antwortet Günther M. „Mehr kann ich nicht sagen.“ Und doch ist er verhalten optimistisch. „Seit 50 Jahren war ich nicht mehr so lange trocken“, sagt er. „In drei Tagen seit 26 Monaten.“ Ob er es ohne die Suchtberatung geschafft hätte? „Nein.“ Schnell und hart kommt die Antwort. „Alleine geht das nicht.“

Doch es ist gar nicht so selbstverständlich, dass es Anlaufstellen wie in Worms gibt. Denn auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte gibt es keine rechtlich bindende Vorgabe für die konkrete Ausgestaltung und Finanzierung der Suchtberatung, erklärt Mirko von Bothmer. Die Folge: Kommunen, Träger und Beratungsstellen sind bei der Aufstellung der Haushalte immer wieder in Erklärungsnot, müssen ihre Kosten rechtfertigen. Die Wormser Caritas-Suchtberatungsstelle – wo jährlich etwa 500 Menschen Hilfe suchen, viele davon über Jahre hinweg – finanziert sich zu gut einem Drittel aus Eigenmitteln und Spenden; das Land trägt abhängig vom Bereich durchschnittlich 52 Prozent der Kosten, die Kommune 15, der Kreis 3 Prozent.

130.000 Euro hat die Caritas in 2022 in die Suchtberatung investiert, so Mirko von Bothmer – ein große Herausforderung in der aktuellen Situation. Und auch bei anderen Trägern sehe es nicht besser aus: Zwei mussten ihre Angebote in der Nibelungenstadt in den letzten Jahren schließen. Entsprechend größer sei der Andrang im Psychosozialen Zentrum geworden, was die Situation zusätzlich verschärfe. „Wie lange wir das noch stemmen können, wissen wir nicht“, sagt der Diplom-Sozialpädagoge. „Dabei bringt jeder in die Suchtberatung investierte Euro eine gesellschaftliche Ersparnis von 28 Euro“, verweist er auf eine aktuelle Studie – von den konkreten Verbesserungen im Leben der Betroffenen ganz zu schweigen. „Suchtberatung ist systemrelevant und trägt nachweislich dazu bei, die Chronifizierung und die Folgekosten von Abhängigkeitserkrankungen zu verringern“, so von Bothmer.

Günther M. hört derweil aufmerksam zu und schüttelt verständnislos den Kopf. Dass die Suchtberatung des Caritasverbands auf Spenden angewiesen ist, um ihr Angebot aufrechtzuerhalten, kann er nicht verstehen. „Hier sitzen Koryphäen und helfen Menschen. Wie kann das sein? Die Entgiftung zahlt die Krankenkasse, die Langzeitentwöhnung die Rentenkasse. Und dann? Dann ist tuck“, sagt er aufgebracht. Für ihn ist die Beratungsstelle mehr als eine kurze Station. „Die Menschen hier haben mir geholfen, mein Leben in den Griff zu kriegen“, sagt er – und das soll auch so bleiben. Schließlich hat auch Mick Jagger eine Sucht-Karriere hinter sich und steht mit 80 Jahren immer noch auf der Bühne, auch wenn seine Stones auf ihrem neuen Album „wie eine Big Band mit Sänger klingen“, frotzelt Günther M. Wenn er in der Spur bleibt, könnte er seinen nächsten runden Geburtstag vielleicht mit einer besseren Platte der Bluesrocker feiern.

 

Kontakt

Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtkranke und deren Angehörige, Renzstraße 3, 67547 Worms, Mirko von Bothmer, Telefon 06241/48036-310, psbb@caritas-worms.de, www.caritas-worms.de/suchtberatung

  Suchtberater Mirko von Bothmer      Foto: Caritasverband Worms