Acht Verletzte, davon einer schwer durch eine Schussverletzung, das war die Bilanz nach einer Auseinandersetzung an einem sonnigen Samstagmittag in der Rheinstraße. Damit einhergehend kam auch die Frage wieder auf, ob es in Worms – und insbesondere in der Altstadt – eine Parallelgesellschaft gibt. Immer wieder kam es dort in den vergangenen Jahren zu Zwischenfällen, Anwohner beschwerten sich über nächtlichen Lärm oder Prostitution.
Vorfall in der Rheinstraße sorgt für Schlagzeilen
Es war der 30. Mai, als ein Konflikt für überregionale Aufmerksamkeit sorgte. Im Polizeibericht hieß es, dass gegen 17:25 Uhr mehrere Notrufe bei der Polizei eingingen. Die Rede war von einer Schlägerei zwischen einer großen Anzahl von Männern in der Rheinstraße in Worms. Einzelne Anrufer sprachen auch von Schüssen. Bereits zuvor, am frühen Nachmittag, war die Polizei dort im Einsatz, weil es zu Streitigkeiten zwischen mehreren Personen gekommen war. Bei der Auseinandersetzung vor einem Gastronomiebetrieb in der Rheinstraße (Café Royal) wurden mindestens acht Personen verletzt. Drei Männer erlitten schwerere Verletzungen. Ein 54-Jähriger wurde durch einen Schuss verletzt und noch in der Nacht operiert. Ein 38-Jähriger erlitt eine oberflächliche Schussverletzung und ein 51-Jähriger wurde durch ein Messer erheblich am Arm verletzt. Die Geschichte sorgte für Schlagzeilen in den überregionalen Medien wie Spiegel Online oder der Bild-Zeitung. Eine Woche später sahen sich die wenigen Nazis, die zum Tag der deutschen Zukunft kamen, in ihrem Weltbild bestätigt und werteten dies als Beleg für eine gescheiterte Politik. Gerüchte machten schnell die Runde, dass es wahlweise um verletzte Ehre oder Schutzgelderpressung ging, ebenso machte eine Videoaufnahme die Runde, in der zwei der Angreifer zu sehen sind, die, bewaffnet mit Knüppel und Hackbeil, immer wieder auf ihre Opfer los gehen und von anderen Personen daran gehindert werden. Erinnerungen wurden wach an den Konflikt zwischen der Rocker Gang Black Jackets und albanischen Türstehern im Jahre 2012. Auch dort wurden Schusswaffen eingesetzt. Besorgte Bürger stellten einmal mehr fest, dass es immer schlimmer in Worms werden würde. Etwas, was die offizielle Kriminalstatistik nicht bestätigen kann. Während die Anzahl der Straftaten seit Jahren auf einem ähnlichen Niveau verharrt, ist hingegen die Aufklärungsquote leicht gestiegen (+ 3,9 Prozent). Auch im Fall Rheinstraße konnte die Polizei schnell einen Erfolg vermelden. Bereits montags gab die Polizei bekannt, zwei Tatverdächtige (34 und 37 Jahre alt) in Gewahrsam genommen zu haben. Nach einer kleinen Anfrage der AfD im Innenausschuss des Mainzer Landtags, erklärte die ermittelnde Staatsanwaltschaft, dass es womöglich um Kränkungen und damit einhergehend um Vergeltung ging. Sie geht aber auch Hinweisen nach, wonach es um Schutzgelderpressung oder auch nur um Auseinandersetzungen im privaten Bereich der türkischen Gemeinschaft in Worms gegangen sein könnte. Dabei sollen sich Beteiligte die Einmischung anderer Mitglieder der Community in ihre Angelegenheiten verboten haben.
Was braucht die Wormser Altstadt?
Einer, den diese Tat besonders betroffen macht, ist Carlo Riva, einer der bekannten Wormser Brückenbauer zwischen den Kulturen, der auch über private Bande in die Rheinstraße verfügt und sich seit vielen Jahren immer wieder um den vermeintlichen Problembezirk kümmert. Für Riva steht fest, dass die Tat die Anwohner mindestens so erschütterte wie das restliche Worms. Im Gespräch mit WO! erklärt er, dass die Aggressivität von außen in das Wohngebiet, in dem zahlreiche unterschiedliche Kulturen zusammenleben, gebracht wurde. Tatsächlich sollen die mutmaßlichen Täter nicht aus Worms kommen. Laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft sind die beiden Hauptverdächtigen türkische Staatsbürger. Weitere Details wollte sie bisher nicht bekanntgeben. Carlo Riva erzählt, dass sich in der Rheinstraße im Laufe der letzten Jahre viel Gutes getan hat. Viele der „Kaschemmen“ von einst sind mittlerweile geschlossen. Riva, der selbst Migrationshintergrund hat und mit sieben Jahren als Sohn italienischer Eltern nach Deutschland kam, betont, dass es im Grunde ruhig geworden ist und plädiert für mehr gegenseitiges Verständnis, da in der Altstadt auf engstem Raum die unterschiedlichsten Kulturen zusammenkommen. Konflikte sind da natürlich nicht ausgeschlossen. Riva sieht aber auch, dass die meisten Konflikte im Dialog gelöst werden können. Auch im Innenstadtausschuss sprach man über das Thema. Uwe Gros (SPD) forderte einen „Kümmerer“, ein Bindeglied zwischen der Altstadt und der Verwaltung. Peter Englert (Bürgerforum Worms/FWG) begrüßte dieses Vorhaben, stellte jedoch die Frage, ob das ausreichend sei. Christian Engelke (Bündnis 90/Die Grünen) kann dem Vorschlag eher wenig abgewinnen und denkt, dass der Innenstadtausschuss, wenn er handeln möchte, die Befugnisse eines Ortsbeirats benötige. Vielleicht ist es aber weniger ein Ortsbeirat oder „Kümmerer“, den der Stadtteil benötigt. Vielleicht sind es positive Erlebnisse unter den Anwohnern in diesem bunten Gebiet, die mehr Verständnis füreinander schaffen. Ganz in diesem Sinne regte bereits im Jahr 2018 der Wormser Beirat für Migration und Integration an, ein gemeinsames Stadtteilfest zu veranstalten, aber auch öfter vor Ort zu sein, um mit den Anwohnern ins Gespräch zu kommen. Auch Alfred Koch (FDP), der sich ebenfalls seit Jahren mit Fragen der Integration beschäftigt, glaubt, dass der Dialog ein wichtiger Schlüssel ist und erklärt WO! gegenüber: „Was für viele Wormser die Zeitung oder das Internet ist, ist besonders für die türkischen Mitbürger das Gespräch auf der Straße. Das müssen wir nutzen“. Ein gemeinsamer Dialog ist auch im Sinne von Carlo Riva, der betont, dass erfolgreiche Integration ein beidseitiger Prozess ist, der auch von den Deutschen die Bereitschaft voraussetzt, mit anderen Kulturen positiv in Kontakt zu kommen, um mehr kennenzulernen als Döner oder chinesisches Essen. Dazu gehört auch, unterschiedliche Einstellungen zu akzeptieren und sich von dem klischeehaften Satz zu lösen: „Die sind doch zu uns gekommen!“ Gehört es aber nicht auch zum Zusammenleben, demokratische Werte in einem demokratischen Land zu akzeptieren? Burghard Magin, Vorsitzender des islamischen Kulturvereins e.V., ist ein Grenzgänger zwischen den Welten. Groß geworden in einer katholischen Familie konvertierte er als junger Mann zum Islam, ist mit einer türkischen Frau verheiratet und ist Vorsitzender eines Vereins, in dem Syrer, Türken, Sudaner und mehr Nationalitäten Mitglieder sind. Im Gespräch mit unserem Magazin erklärt er, dass es natürlich nicht immer einfach ist, die unterschiedlichen kulturellen oder religiösen Belange in Einklang mit deutschen Gesetzen zu bringen. Das zeigte sich in Zeiten von Corona an einem praktischen Beispiel, das in der Gemeinde für Diskussionen sorgte. Im islamischen Gebetsritual ist es notwendig, sich gegenseitig zu berühren, was wiederum durch die aktuelle Corona-Verordnung untersagt ist. Nicht jeder wollte das akzeptieren und verließ daraufhin den Verein. Magin beobachtet demensprechend, dass viele Muslime oftmals nur das Schlechte sehen oder sich abgelehnt fühlen und betont in diesem Zusammenhang, dass die Stadt stärker auf die Gemeinden zugehen sollte. Der Beirat für Migration und Integration sei zum Beispiel ein gutes Projekt, würde aber von vielen Ausländern in Worms kaum wahrgenommen werden, da die Ergebnisse nicht effektiv seien.
Schlechte Wahlbeteiligung bei Beiratswahl
Wie wenig der Beirat wahrgenommen wird, zeigte die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung am 27. Oktober 2019. Wahlberechtigt waren alle ausländischen Einwohner der Stadt Worms, Spätaussiedler oder Bürger, die durch Einbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, sowie Doppelstaatler und Staatenlose. Von 13.897 Bürgern gaben gerademal 558 ihre Stimme ab. Sumera Nizami-Jeckel, Vorsitzende des Beirats, sieht die Schuld für die schlechte Wahlbeteiligung nicht unbedingt in einem Desinteresse begründet, sondern in einem umständlichen Verfahren. So müssen z.B. Personen, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben, sich zuerst in ein Wählerverzeichnis eintragen. Viele davon kennen die Abläufe nicht oder sind überfordert. Wadad Landua (Beiratsmitglied) sieht das ähnlich: „Seit 2015 sind viele neue Migrantinnen und Migranten nach Worms gekommen. Viele davon haben sich noch nicht etabliert. Es ist eine unserer Aufgaben, diese mit ins Boot zu holen.“ Landua räumt aber auch ein: „Ich habe den Eindruck, dass viele Migrantinnen und Migranten, die schon lange hier wohnen, sich nicht angesprochen fühlen.“ Dennoch glauben die Beiratsmitglieder daran, dass dieser ein wichtiger Multiplikator sein könnte. Die Vorsitzende wünscht sich aber auch mehr Anerkennung von der Stadt. So wäre es wünschenswert, wenn der Beirat eigenständig Anträge in den Stadtrat einbringen könne. Derzeit muss das Gremium eine Fraktion im Stadtrat finden, die ihr Anliegen übernimmt und einen Antrag stellt. In der Praxis käme es so immer wieder vor, dass Anträge nicht weiterverfolgt werden. Schlecht sei auch die finanzielle Ausstattung, wodurch eigene Aktivitäten erschwert werden. Wie schlecht die finanzielle Unterstützung in Fragen der Integration ist, kann man symbolhaft am Fest der Kulturen, das einmal im Jahr auf dem Obermarkt stattfindet, ablesen. Es ist eines der wenigen Feste in Worms, indem sich das deutsche Worms und das ausländische Worms für wenige Stunden in einem positiven Kontext erleben. Bis vor 15 Jahren wurde das Fest von der Stadt veranstaltet. Danach hieß es, dass man es aus Kostengründen nicht mehr ausrichten könne. Die ökumenische Pfarrerin Dr. Erika Mohri sprang schließlich ein und organisiert seitdem das Fest, an dem sich auch der Beirat und der islamische Kulturverein beteiligen. Für Nizami-Jeckel steht aber fest, dass es ein starkes Signal sein könnte, wenn die Stadt sich diesen Tag wieder auf ihre Agenda schreibt. Das betont auch Carlo Riva, der sagt, dass die Stadt mehr positive Impulse setzen müsse, damit die Selbstidentifizierung der Bürger zunimmt. Ein Wunsch, der nicht nur für die Wormser mit Migrationshintergrund gelten sollte. Klar ist aber auch, dass die Herausforderung, rund 130 Kulturen, die in dieser Stadt leben, unter einen Hut zu bringen, noch ein weiter Weg ist, der über Bildung, Sprache und letztlich einen vernünftigen Job führt. Nizami-Jeckel würde sich wünschen, dass man bereits im Kindergarten das Zusammenleben der Kulturen und Themen wie Rassismus aufgreift. Zudem betont sie: „Wenn ich immigriere, dann muss ich das Land respektieren und akzeptieren. Es muss auf jeden Fall mehr passieren, deswegen engagiere ich mich im Beirat.“ Zum Abschluss unseres Gesprächs ergänzt sie noch: „Letztlich sind wir alle Menschen!“