Wie die Nibelungenstadt zum Corona-Hotspot in Rheinland-Pfalz wurde

„Die Ausgangssperre beschädigt das Versprechen des Rechtsstaats, als freier Mensch in einem freien Land zu leben!“ Dieser Satz stammt von einem Oberbürgermeister, allerdings nicht von Adolf Kessel, sondern von Heidelbergs Stadtchef Martin Rupps. Dieser forderte unlängst, die Ausgangssperre in Baden-Württemberg aufzuheben. In Worms sind wir aktuell von einer ähnlichen Debatte weit entfernt. Gerade wurde die Ausgangssperre verlängert und von Adolf Kessel weiterhin als adäquates Mittel beschieden. Doch was war passiert, dass die Bürger einer Stadt einem derartigen Einschnitt in die demokratischen Grundrechte ausgesetzt werden?

Wer die täglichen Fallzahlen Corona verfolgte, die das Gesundheitsamt Alzey-Worms veröffentlicht, konnte bereits ab 7. Januar ahnen, dass deren Entwicklungen Konsequenzen nach sich ziehen würden. An diesem Tag übersprang der Inzidenzwert erstmals in Worms die magische Grenze von 200 (202). Bund und Länder hatten zuvor beschlossen, dass Kommunen ab diesem Wert zusätzliche Maßnahmen ergreifen müssen. Insbesondere im Fokus: „Die Einschränkung des Bewegungsradius auf 15 km um den Wohnort, sofern kein triftiger Grund vorliegt“. Für Wormser gab es zunächst Grund zu hoffen. Die Stadt erklärte am 7. Januar: „Ob und wie die rheinland-pfälzische Landesregierung diese Regelung umsetzt, ist noch nicht bekannt.“ Am darauffolgenden Wochenende gab Kessel der Wormser Zeitung ein Interview, in dem er eine Ausgangssperre zwar für sinnvoll erachtete, aber nicht die 15 Kilometer-Regel. Doch dann kam der 11. Januar und ein erschreckend hoher Inzidenzwert, der bei 321,5 lag. Es drängte sich schnell die Frage auf, wie es zu einem derart hohen Wert in kürzester Zeit kommen konnte? Ein Blick auf die Seite des Gesundheitsamtes zeigte, dass es zu diesem Zeitpunkt in mehreren Senioreneinrichtungen zu Ausbrüchen kam, darunter waren der Remeyerhof, das Amandusstift, das Martin-Luther-Haus sowie das Seniorenzentrum Domicil. Doch Zahlen sind geduldig.VERZÖGERTE ÜBERMITTLUNG SORGT FÜR REKORDWERT

Die Leitung der AWO Einrichtung versuchte dementsprechend eine Einordnung der Lage vorzunehmen. Gegenüber der Wormser Zeitung erklärte man, dass die Zahlen grundsätzlich gestimmt hätten, es sich allerdings um unbestätigte Infektionen handelte. Dass das Gesundheitsamt die hohen Zahlen korrigierte, interessierte dann niemand mehr. Tatsächlich differenziert das Gesundheitsamt nicht die Testergebnisse. Ist ein Test positiv, wird er gezählt. Im Falle des Remeyerhof zeigte sich mal wieder, wie ungenau diese Verfahren sind. Meldete die Behörde zunächst 40 Positivfälle, blieben kurz darauf nur noch 26 übrig. Was blieb, war der Inzidenzwert. Zugleich übte die Leitung Kritik an der Politik. Da die Schnelltests zu diesem Zeitpunkt noch freiwillig waren, wurden diese von Besuchern kaum wahrgenommen, wodurch ein Schutz der Bewohner und des Personals erschwert wurde. Die Leitung brachte es dementsprechend auf den Punkt: „Ich hätte mir gewünscht, dass die Politik viel früher reagiert und besondere Schutzmaßnahmen für Pflegeheime durchgesetzt hätte.“ Ein Blick auf die Sterbezahlen in Verbindung mit Corona spricht eine deutliche Sprache. Alleine im Januar verstarben bis zum 28. in Worms 47 Personen, davon waren 35 Bewohner von Senioreneinrichtungen. Außerdem machte die Leitung darauf aufmerksam, dass alle Fälle bereits vor dem 24. Dezember auftraten. Den Feiertagen geschuldete Übermittlungsverzögerungen schlugen sich aber erst im Januar nieder. Herr Kessel war dies alles bewusst. In einem Gespräch gegenüber der Wormser Zeitung am 10. Januar räumte er ein, dass ein Ausbruch in einem Altenheim mit einem sprunghaften Anstieg der infizierten Personen einhergeht. Doch all das fand in der Mitteilung der Stadt keine Erwähnung. Stattdessen informierte man, dass man eine Allgemeinverfügung entworfen hätte, die nun zur Abstimmung beim Gesundheitsministerium vorläge: „Unsere Allgemeinverfügung sieht eine nächtliche Ausgangssperre in der Zeit von 21 Uhr bis 5 Uhr vor.“ Auch Menschen, die nicht in Worms wohnen, dürfen sich in dieser Zeit im Wormser Stadtgebiet nicht mehr draußen aufhalten. Die Öffnungszeiten gastronomischer Einrichtungen (Liefer-, Abholservice und Straßenverkauf) wurden darin ebenfalls begrenzt. Also von der Branche, die ohnehin schon schwer gebeutelt ist. Auch Supermärkte und Tankstellen sollten von diesem drastischen Eingriff nicht verschont bleiben. Ausgenommen von der Ausgangssperre sind wiederum: Aus beruflichen Gründen die Wohnung zu verlassen, für medizinische Notfälle und Hundebesitzer, die ihren Hund ausführen müssen. Wer indes in dieser schwierigen Zeit sich für einen abendlichen Spaziergang alleine entscheidet, läuft seitdem Gefahr, mit einem Bußgeld in Höhe von 500 Euro bedacht zu werden. Ein schriftlicher Nachweis über den Zweck des Aufenthalts außerhalb der Wohnung ist wiederum nicht erforderlich. Kurzum: es liegt erstmal im Ermessenspielraum von Polizei und Ordnungsdienst, dies zu beurteilen.

CORONA LINE UND HOT SPOT INNENSTADT

Von einer Einschränkung des Bewegungsradius auf 15 Kilometer wollte man zunächst weiterhin nichts wissen und appellierte an die Bürger, auf Ausflüge in den Pfälzer Wald etc. zu verzichten. Warum man ausgerechnet mit einem Verzicht auf einen Waldspaziergang zur Eindämmung der Pandemie beitragen könnte, das wurde nicht erklärt. Im erzieherischen Brustton erklärte der Oberbürgermeister stattdessen: „Sollte der Appell nicht fruchten, werden wir die Einschränkung in Erwägung ziehen.“ Im besagtem Interview am 10. Januar bekräftige er abermals, dass er eine Einschränkung des Bewegungsradius nicht für sinnvoll erachte. Einen Tag nach diesen Worten informierte die Stadt, dass es genau diese ab dem 13. Januar geben wird. Zusätzlich erklärte man das Comeback der Maskenpflicht in der vom Lockdown weitestgehend verwaisten Fußgängerzone. Wir fragten beim OB nach, worin der Sinn einer Maske in einer menschenleeren Fußgängerzone liegt? Kessels Antwort: „Das war eine Forderung des Landes.“ Es drängt sich geradezu die Frage auf, ob es sich hierbei nicht einfach um Symbolpolitik handelt? Kessel hierzu: „Auch da kann ich Ihnen nicht widersprechen. Natürlich ist es nicht so einfach, sich selbst bei einer Begegnung in der Fußgängerzone unter freiem Himmel zu infizieren. Es geht wohl eher darum, die Menschen symbolhaft an unsere angespannte Situation zu erinnern.“ Mit der Ausgangssperre verbindet er wiederum die Hoffnung, dass Kontakte vermieden werden. Kessel: „Wir haben uns das nicht einfach gemacht und gemeinsam mit dem Gesundheitsamt Alzey-Worms genau die Entwicklung angeschaut. Dabei fiel uns auf, dass insbesondere in der Innenstadt und Innenstadt-West die Zahlen sehr stark steigen. Das legt den Verdacht nahe, dass es in diesem Bereich in Worms einen Infektionsherd gibt.“ Kessel weiter: „Eine konkrete Rückverfolgung ist leider kaum noch möglich. Diese Situation haben wir mittlerweile in 90 Prozent aller Fälle. (Eine Zahl, die sich beim Studium der Corona Statistik nicht bestätigen lässt, Anm. der Red.). Außerdem müssen wir auch dringend das Klinikum entlasten.“ Während man ihm beim letzten Punkt kaum widersprechen kann, stellt sich die Frage, ob die Zahlen in der Innenstadt und Innenstadt-West nicht einfach dem Umstand geschuldet sind, dass dort auch die meisten Menschen auf engstem Raum leben? Wir wollen vom Gesundheitsamt wissen, wie man dort die Lage beurteilt? Die Antwort: „Überall dort, wo Menschen auf engem Raum zusammenleben, besteht natürlich ein erhöhtes Infektionsrisiko. Somit ist eine erhöhte Fallzahl im Innenstadtbereich keine Überraschung.“ Am 13. Januar trat schließlich die Verfügung in Kraft, begleitet von einer Pressekonferenz am Wormser Hauptbahnhof am 14. Januar. Auch wir waren vor Ort und entsprechend verwundert über das außerordentliche mediale Interesse. Rund 40 Pressevertreter fanden sich zumindest mit Maske bekleidet unter dem Nachthimmel von Worms ein. Zu diesem Zeitpunkt war bereits der Inzidenzwert am Fallen, ohne das Eingreifen von Land und Stadt. Dieser Trend setzte sich auch in den folgenden Tagen fort. Sollten die Maßnahmen tatsächlich was gebracht haben, dürfte sich diese frühestens ab dem 24. Januar niedergeschlagen haben. Doch auch hier zeigt ein Blick auf die Zahlen lediglich die Fortsetzung des Trends. Das hinderte die Stadt allerdings nicht daran, die Verfügung bis mindestens 14. Februar 2021 zu verlängern. Immerhin gestattet man Wormsern nun, bis 21:30 Uhr grundlos das Haus zu verlassen. Begleitet wird die Verfügung weiterhin von großangelegten Kontrollen, die mit drastischen Geldstrafen einhergehen können.

„VIELLEICHT MUSS SICH HERR KESSEL FRAGEN, WAS DAS MIT DEN BÜRGERN MACHT!“

Mathias Englert, der für die FWG/Bürgerforum Worms im Stadtrat sitzt, stellte zeitgleich mit dem Erlass einen Widerspruch, sowie parallel beim Verwaltungsgericht einen Eilantrag zur Aufhebung der Verfügung, wie er betont: als Privatperson. Englert argumentiert: „Die Allgemeinverfügung der Stadt zielt in den angegriffenen Punkten in keiner Weise auf die Kontaktreduzierung oder die Reduzierung der Virenübertragung. Stattdessen bewirkt die Allgemeinverfügung das Gegenteil: Beispielsweise führt die verkürzte Zeit zum Einkaufen zwangsläufig zu mehr Kontakten. Das ist kontraproduktiv. Außerdem sollten Grundrechtseinschränkungen (Freizügigkeit) einem Zweck (hier der Verhinderung von Infektionen) dienen und zweitens das letzte zur Verfügung stehende Mittel sein. Sowohl die 15-km-Begrenzung als auch die nächtliche Ausgangssperre erfüllen beide Kriterien nicht. Englert verweist darauf, dass wiederum sinnvolle Maßnahmen, wie die Kontaktbeschränkung zu Hause, lediglich „Soll-Vorschriften“ sind.“ Während Stadt und Land sich zumindest hinsichtlich der 15 Kilometer gnädig zeigten und diese nach einer Woche wieder aus der Verfügung strichen, hält man an den anderen Maßnahmen fest. Der Eilantrag landete indes erstmal auf einem richterlichen Schreibtisch und blieb dort liegen. Am 28. Januar meldete man sich schließlich und verkündete lapidar, da der Grund des Antrags nicht mehr vorhanden sei (die Verfügung endete am 31. Januar), werde das Verfahren eingestellt. Eine Bestätigung der Verfügung, wie die Stadt per Pressemitteilung behauptete, ist das allerdings nicht. So müssen die beiden Kontrahenten, Englert und Stadt, die Verfahrenskosten zu gleichen Teilen tragen. Wir wollen von Englert wissen, was er von der kurz darauf veröffentlichten Verlängerung hält: „Diese Verlängerung ergibt nun überhaupt keinen Sinn mehr. Vielleicht sollte sich Adolf Kessel fragen, was diese Einschnitte in die Grundrechte mit den Menschen seiner Stadt macht!“ Von einer erneuten Klage möchte er aber trotzdem absehen.