Derzeit wird in vielen politisch interessierten Kreisen engagiert darüber diskutiert, wie offen unsere Gesellschaft in Deutschland ist, sein kann bzw. sein sollte. Offenbar ist die entsprechende Offenheits-Grenze unserer Gesellschaft verschiebbar – sonst bräuchten wir ja nicht zu diskutieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir zunächst wichtig, bei dieser Diskussion an die folgende Äußerung des österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper (1902-1994) zu erinnern:

“Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz“.

Popper nannte dies das „Paradox der Freiheit und der Demokratie“. Er schrieb dies bereits 1945, und zwar in seinem Werk mit dem bezeichnenden Titel: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (vgl. vor allem den Anmerkungsapparat in Bd. 1 auf Seite 361). Die uns aktuell umtreibende Frage nach der Offenheit unserer Gesellschaft ist also zunächst einmal und grundsätzlich betrachtet überhaupt nicht neu. Aber dann führt auch Poppers Begründung seiner These unsere Diskussion inhaltlich weiter: „Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, […] dann werden die Toleranten vernichtet werden“. Und an anderer Stelle: Wir „sollten für uns das Recht in Anspruch nehmen, sie [sc. intolerante Philosophien], wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken.“ Damit hat Popper deutlich eine aus meiner Sicht auch heute noch gültige Grenze für die offene Gesellschaft gezogen: Die Intoleranz. Ich würde hier anmerken: die Intoleranz in Politik und Religion. Nun ist es allerdings für das Verständnis der Grenzziehung Poppers wichtig, den Begriff „Toleranz“ inhaltlich korrekt zu erfassen. Toleranz (von lateinisch tolerare: „ertragen“) bedeutet ein existentiell anstrengendes Aushalten einer anderen Ansicht. Sie setzt also einen eigenen Standpunkt voraus – ersetzt ihn aber nicht. Ohne eigene Werte zu haben, kann man nicht tolerant sein. Einen entsprechenden wertegebundenen Standpunkt hat natürlich auch der liberale Humanismus. Ein liberaler Humanist legt, auch in einer politischen Debatte, seinen Werte-Standpunkt dar, – etwa mit dem Verweis auf: Rationalität, Menschenrechte, grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen, Eigenverantwortlichkeit, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Aber: – auch ein liberaler Humanist kann Grenzen für die offene Gesellschaft einfordern, und dabei Humanist bleiben. Er muss sogar letztlich Grenzen ziehen, wie es Poppers o. a. Zitat nahe legt. Derjenige allerdings (wer auch immer), der – nach seinen Werten gefragt – sofort „Toleranz“ nennt und dann keine Werte mehr, ist in weltanschaulich-philosophischer Hinsicht bestenfalls als bemüht, jedoch in Weltanschauungsfragen im Grunde als ahnungslos – und in politischer Hinsicht letztlich als gefährlich anzusehen, weil er unter dem Namen (bzw.: unter dem Deckmantel) der Toleranz im Grunde einer gefährlichen Beliebigkeit Vorschub leistet. Toleranz ist nämlich eine Haltung, konstruktiv mit unterschiedlichen Wert-Überzeugungen umzugehen. Sie folgt den eigenen Werten, geht ihnen jedoch nicht voraus.
Insofern ist eine Grenze der offenen Gesellschaft nicht nur die Intoleranz (Popper) – und zwar in Politik und in Weltanschauungsfragen -, sondern schließlich auch die ignorante Ahnungslosigkeit im Umgang mit ihnen.

Bernd Werner,
Für den Humanistischen Verband Deutschland (HVD), Landesverband RLP, Gruppe Worms

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