Nachdem 2015 der Dokumentarfilmer Thomas Schadt die Nibelungen in ihr Verderben schickte, hat es sich der in Bielefeld geborene Regisseur Nuran David Calis in diesem Jahr zur Aufgabe gemacht, der Sage einen deutlich moderneren Anstrich zu verpassen. Man könnte sagen, es ist die Spezialität des Regisseurs mit der türkisch-armenisch-jüdischen Abstammung, klassische Stoffe in die Jetztzeit zu transportieren. Mit der Verfilmung „Woyzeck“ gelang ihm dies bereits vorzüglich auf der Kinoleinwand. 2011 verfasste der umtriebige Künstler seinen Debütroman „Der Mond ist unsere Sonne“, der autobiografische Züge trägt. Aktuell wird der 40-Jährige für seine ambitionierte Bühnenfassung von Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“ gefeiert. Auch hier versucht er, mit gängigen Theaterkonventionen zu brechen und inszeniert auf mehreren Ebenen ein kraftvolles Stück mit dem Kernthema „Schuld und Sühne“. Es wird spannend sein, zu sehen, was der Regisseur aus dem mittlerweile mehrfach erzählten Nibelungenstoff machen wird.

WO!: Sie inszenieren gerade in München im Residenztheater von Franz Werfel „Die 40 Tage des Musa Dagh“ über den armenischen Völkermord. Mit fällt auf, dass sie sich in ihren Arbeiten immer wieder mit den Themen Immigration, Integration und Rassismus auseinandersetzen.
Calis: „Ja, Sie haben vollkommen Recht. Es ist die Erzählung, mit der auch alles angefangen hat und die ich unermüdlich weiter versuche zu erzählen. Unsere Gesellschaft hat sich nicht nur durch die ersten und zweiten Einwanderungswellen verändert. Wo steuert unsere Gesellschaft eigentlich hin? Was wollen wir eigentlich? Wie wollen wir aussehen? Wie verständigen wir uns miteinander? Ich finde, dass man das in einem Theaterraum sehr gut darstellen und erzählen kann.”

WO!: Vor der Pressekonferenz wäre auch meine Frage gewesen, wie Sie dieses Thema in die Inszenierung einfließen lassen. Nach der Pressekonferenz ist mir klar, dass das über die Figur Siegfried passiert.
Calis: „Man darf sein Publikum nie unterschätzen. Ich bin kein Mensch, der frontal erzählt. Ich versuche immer, den Zuschauer über ein Spiel, über ein Darstellen einer Utopie zu erreichen. Entweder es gelingt oder es gelingt nicht, den Zuschauer in ein Spiel mit einer Erkenntnis hineinzuziehen. Aber es muss zumindest ein Spiel stattfinden. Theater ist ein politisches Statement… Wir sind ein Kunstraum, der aber die Konflikte trotzdem auffangen kann.”

WO!: Das klingt alles sehr akademisch, sehr theoretisch. Wie schafft man es, nicht den Blick für das Unterhaltendende an so einem Abend zu verlieren?
Calis: „Die Zuschauer kommen und schauen. Sie beginnen sich zu fragen. „Hat das was mit meiner Welt zu tun?“ Ein Theater kann so viele Impulse geben. Dann ist da natürlich dieser Raum vor dem Dom. Hier ist die Wiege des Liedes, hier hat vielleicht das germanische Volk versucht, eine Identität zu schaffen. Das muss man natürlich auch zum Gegenstand des Abends machen. Die Frage ist, wie viel Unkonventionalität, wie viel Radikalität verträgt der Abend und mein Ansatz ist, den Zuschauer am Weggehen zu hindern.”

WO!: Es heißt, das Stück in diesem Jahr trägt Elemente einer Komödie in sich. Komödien waren bisher aber nicht gerade der Schwerpunkt ihres Schaffens!
Calis: „Ja, es steht zwar am Anfang Komödie, aber wenn es keine ist, ist das auch ok. „Der Tartuffe“ (Theaterstück von Moliere, Anm. d. Red.) ist immer dann stark, wenn man es nicht nicht klipp und klar als Komödie inszeniert. Eine Komödie ist eine Tragödie, wenn man den Zeitfaktor ein bisschen bremst und dann kann etwas ganz Brutales entstehen.”

WO!: Die Nibelungen sind ja durchaus auch ein Lied über Mord und Totschlag!
Calis: „Ja.”

WO!: Auch Voyeurismus wird ein Thema sein?
Calis: „…ja auch unter Wasser”

WO!: Was fasziniert Sie an diesem Thema?
Calis: „Es ist ein totaler Wahnsinn, was in der Medienlandschaft gerade passiert. Ich möchte die Schauspieler durch eine Hölle jagen, in der es keine Privatsphäre mehr gibt. Wann ist irgendwann einmal Schluss, wann hört es auf? Was ist seriös, was ist unseriös und in diesem Konflikt befinden wir uns ja auch in dieser Gesellschaft. All diese Schnelllebigkeit, diesen Overkill, den versuche ich über die Kameras und diese Präsenz zu zeigen, der alle ausgeliefert sind.”

WO!: Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit den Medien?
Calis: „Ich selbst habe keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber ich sehe, was um mich herum passiert. Was ist das für eine Maschinerie, in die die ganzen Leute um mich herum geraten? Vielleicht haben sie es ja auch gewollt und verlieren dann die Kontrolle darin. Dies möchte ich auch mit meiner Inszenierung widerspiegeln – es hat viel mit Kontrollverlust und Abgründen zu tun.”

WO!: Verspürt man nicht eine gewisse Wehmütigkeit als Regisseur? Sie machen sich unheimlich viele Gedanken über dieses Stück, es kommen dann irgendwann die Proben, schließlich der Zeitpunkt der Inszenierung für zwei Wochen und dann ist alles vorbei.
Calis: „Das ist genau das Geniale da dran. Dass es endlich ist, so wie das Leben. Ich will jetzt nicht Camus zitieren; „Ein stetiges Stein rauf, Stein runter, Stein rauf“. Ich finde es großartig, mit dem Bewusstsein zu leben, dass irgendwann etwas zu Ende ist und das lässt mich umso mehr den Moment genießen. Das erfüllt mich.”

WO!: Das heißt, Sie würden für eine gute Theaterinszenierung einen Film eher ablehnen bzw. das Theater bevorzugen.
Calis: „Natürlich, sofort. Theater ist meine Obsession. Meine Leidenschaft. Es ist der Raum, in dem ich mich bewege. Da fühle ich mich wie der Fisch im Wasser.”

WO!: Was macht es mit Ihnen, wenn dann negative Kritik kommt? Kann es einen dann nicht auch ein Stück weit zerreißen?
Calis: „Ich lese keine einzige, weder eine negative, noch eine positive Kritik.”

WO!: Dies ist wahrscheinlich eine weise Entscheidung. – andererseits sage ich, wer in die Öffentlichkeit geht….
Calis: „Letztlich sind die Zuschauer das Maßgebliche und ich bin auch mein strengstes Korrektiv, wenn ich nicht das erreiche, was ich mir vorstelle. Wenn es dann angenommen wird oder nicht, ist das im Ermessen des Kritikers oder des Zuschauers oder der Leitung.”

WO!: Und das ist ja dann auch ein Ausdruck Ihres Werkes, dass Sie am Ende diesen Anspruch haben, diese Geschichten, gerade auch klassische Stoffe, auch in die Gegenwart zu transportieren.
Calis: „Ja, ich möchte das Kulturelle erhalten und auf der anderen Seite will ich auch neue Leute ins Theater holen. Ich möchte mit meiner Arbeit andere Publikumsschichten ansprechen. Das ist ein langer Weg und das geht nicht mit einer einmaligen Aufführung. Auch Nico Hofmann sagt: „Ihr müsst jetzt diesen Prozess weiter führen!“ Ich glaube, Worms kann in derselben Liga wie Salzburg und den Wiener Festwochen spielen und noch besser.”

WO!: Wir danken für das Gespräch