Die Stimmung an diesem Samstagnachmittag im Mozartsaal als euphorisch zu bezeichnen, würde der Sache nicht gerecht werden. Als hätte der zu diesem Zeitpunkt noch als  Kanzleramtsbewerber durch Deutschland tourende Martin Schulz bereits die Bundeskanzlerwahl gewonnen, wurde dessen Auftritt von „Martin, Martin“ Chören begleitet und gefeiert, als würden Take That und die Spice Girls gemeinsam ein Konzert geben. Weit mehr als 1000 begeisterte Sozialdemokraten waren gekommen, um „Sankt Martin“ live zu erleben.

Bevor es soweit war, hatten verschiedene regionale SPD Politiker die Aufgabe, die Wartezeit auf den derzeitigen Superstar der SPD zu verkürzen. Die Liste der politischen Prominenz war lang. Egal, ob Roger Lewentz, Alexander Schweitzer, Jens Guth, Michael Kissel oder Ministerpräsidentin Malu Dreyer, alle waren sie gekommen, um zu lauschen, wie der Merkel-Herausforderer die Wahl gewinnen und Deutschland zu einem gerechteren Land machen möchte. Die SPD befindet sich derzeit in einem Umfragehoch, wie sie es zuletzt zu Zeiten eines Gerhard Schröder erlebte. Allein in den letzten Monaten konnte die SPD bundesweit rund 13.000 Neumitglieder begrüßen. Menschen, die sich bis vor kurzem nicht einmal mit Politik beschäftigten, sind plötzlich erfasst vom „Schulz-Effekt“ und hielten auch an diesem Samstag Plakate in der Hand, auf denen stand:

„Wir unterstützen Gott-Kanzler Martin Schulz“.

Zwischenzeitlich ist der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments mit sensationellen 100% der Stimmen zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt worden. Doch wer ist eigentlich dieser Martin Schulz, der bisher eher als politischer Technokrat eines bürgerfernen Europas galt und weniger als glühender Verfechter einer sozial gerechten Politik?

DER MANAGER UND DER KLEINE MANN VON NEBENAN
Seit Schulz von seinem Parteigenossen zum Kanzlerkandidaten geadelt wurde, reist er von Interview zu Interview und von Rede zu Rede, um für seinen Slogan „Zeit für Gerechtigkeit“ zu werben. Auch in Worms nahmen zwei Drittel der einstündigen Redezeit soziale Themen ein. Der kleine Mann mit großem Ego, der gleich zu Beginn seiner Rede betonte, dass die SPD mit dem Anspruch antritt, die stärkste Partei Deutschlands zu werden, war schnell bei seinem Lieblingsthema, dem kleinen Mann von nebenan. Schulz gab ganz den Wahlkämpfer und beschwor, begleitet von tosendem Applaus, ein reiches Land, das es schafft, auch sozial gerechter zu werden. „Wir sind das stärkste und reichste Land der EU. Ein reiches Land mit 25 Milliarden Überschuss kann es sich nicht leisten, Missstände in der Kinder- und Pflegebetreuung zu haben. Es ist Realität, dass es in diesem Land Ungerechtigkeiten gibt. Man muss die Dinge beim Namen nennen“. Man kann und möchte Martin Schulz kaum widersprechen, dennoch fällt bereits hier das Phrasenhafte dieser Botschaft auf. Nicht minder populistisch klang dann auch die Aussage, Managergehälter begrenzen zu wollen, was beileibe kein neuer Gedanke ist. Immer wieder unternahmen Politiker in der Vergangenheit den Versuch, der zunehmend immer größer werdenden Kluft zwischen normalen Arbeitnehmergehältern und Managergehältern Einhalt zu gebieten – bekanntermaßen ohne Erfolg. Natürlich hat er Recht, wenn er kritisiert, dass ein Manager Millionenabfindungen kassiert und dann auch noch die Steuerlast drückt, während der Bäcker um die Ecke brav seine Steuern bezahlt.

SCHULZ UND DAS SCHWERE ERBE DER SPD
Hat Martin Schulz allerdings vergessen, dass seine Partei seit 1998 – bis auf vier Jahre – stets in der Regierungsverantwortung stand und es bis heute nicht geschafft hat, solche Missstände zu korrigieren? Es ist wahrscheinlich die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die SPD die Pfaden der sozialen Gerechtigkeit verließ und einst die Agenda 2010 ersann, die für viele Menschen den direkten Weg in die relative Armut bereitete und ganz nebenbei den Grundstein für Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse legte. Natürlich hat Schulz dieses unpopuläre Erbe nicht vergessen und hat sich seine Gedanken dazu gemacht. Viel eingefallen ist ihm jedoch nicht. Seine Ideen beziehen sich ausschließlich auf das Arbeitslosengeld I und die Schaffung eines Arbeitslosengeld „Q“. Q steht für Qualifizierung und das soll zukünftig ein Kernthema für die Bundesagentur werden. Das Arbeitslosengeld soll wiederum für ältere Arbeitslose auf 48 Monaten verlängert werden; ein begrüßenswerter Schritt, der allerdings nicht an den wackligen Grundsäulen von Hartz IV rüttelt. In diesem Zusammenhang fordert er auch, dass „sachgrundlose Befristungen von Arbeitsverhältnissen“ abgeschafft werden müssen.

DER WEG ZUM KANZLERKANDIDATEN
Eine ebenso populäre Botschaft der Schulz Agenda, die er an diesem Tag in den Mozartsaal hinausrief: Die Pläne, Kita- und Studienplätze bundesweit von den Gebühren zu befreien, oder Pflegeberufe „aufzuwerten“. Immer wieder beschwört der Mann, der sein politisches Handwerk als Bürgermeister der kleinen nordrhein-westfälischen Stadt Würselen gelernt hat, den Geist sozialer Gerechtigkeit, nur klingen seine Botschaften nicht mehr wie wohlklingende Sätze. Ist es sozial nicht viel gerechter, statt einfach alles beitragsfrei zu machen, diesen an das Einkommen zu koppeln? Schulz möchte Alleinerziehende entlasten, ein Umstand, der zu begrüßen ist. Ist ein Solidaritätsstaat nicht ein Staat, in dem der, der viel hat, dem hilft, der wenig hat? Im Moment scheint das den Genossen zu reichen. Zu sehr sehnt man sich in deren Reihen nach einem Mann, der den Geist des Willy Brandt heraufbeschwört. Etwas, zu was Sigmar Gabriel zu seiner Zeit als Parteivorsitzender nicht ansatzweise in der Lage war. Gabriel wusste, dass die SPD mit ihm keine Chance bei der kommenden Bundestagswahl haben würde, also begab er sich auf die Suche nach einem Nachfolger, der in der Bundespolitik unverbraucht war. In Martin Schulz fand er diesen Kandidaten. Der trug sich seit geraumer Zeit offen mit dem Gedanken, in die Bundespolitik zu wechseln, wusste er doch, dass sich seine Europa-Karriere langsam dem Ende nähert. Schulz war seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments. Nach seiner Wiederwahl 2014 wurden Geheimvereinbarungen getroffen, in denen festgeschrieben wurde, dass der SPD Politiker 2017 sein Amt an einen Politiker des konservativen Lagers übergeben müsse, ohne deren Unterstützung er niemals Parlamentspräsident geworden wäre. Sein Europakumpel Jean Claude Juncker drohte Anfang 2017 zwar mit Rücktritt, wenn Schulz nicht bleiben könne, das half allerdings nichts. Es war für Gabriel und Schulz eine Fügung des Schicksals. Der eine wollte einen Job, den er auch nach der Bundestagswahl weiter begleiten könne, sprich Außenminister, und der andere wollte noch nicht die politische Rente ansteuern. Da störte es auch nicht, dass der Europapolitiker Schulz schon so einige fragwürdige Entscheidungen auf der Kappe hatte.

WER IST MARTIN SCHULZ?
Seine Vergangenheit in Brüssel sparte der Politiker, dem man ein großes Machtbewusstsein nachsagt, bei seiner Rede dann auch überwiegend aus. Viel lieber erzählte er aus seiner Zeit als junger Mann, als er Abitur machen wollte, aber mehr Begeisterung für das Fußballspielen hatte und so zweimal die 11. Klasse besuchte, um dann doch das Gymnasium ohne Abitur zu verlassen. Er erzählte, wie er danach in den Alkoholmissbrauch abrutschte, ihm sein Bruder nach fünf Jahren half, einen Weg aus der Sucht zu finden und wie er schließlich Buchhändler lernte. Er, der weiß, wie es ist, ganz unten zu sein. Kein Wort davon, dass er es als Europapolitiker schon längst Millionär ist und zeitweise einen Bruttoverdienst von 500 Tausend Euro verbuchen konnte. Mehr als Kanzlerin Merkel verdient. Kein Wort davon, dass er als Europapolitiker genauso die Austeritätspolitik von Merkel und Schäuble voran trieb und er kurz vor seinem Wechsel in die Bundespolitik noch das umstrittene CETA-Abkommen durch das Parlament boxte und anderen Parteien kurzerhand das Recht auf Stellungnahme entzog. Stattdessen empörte er sich auch bei seiner Rede im Mozartsaal darüber, dass es nicht sein kann, dass amerikanische Unternehmen hierzulande keine Steuern zahlen, während der Mittelstand und die Einzelhändler zuverlässig ihre Steuern entrichten. „Da wo Gewinne gemacht werden, muss gezahlt werden“, sagte er im Brustton der Überzeugung und vergas mal wieder seine politische Vergangenheit. Ausgerechnet er, der sich für die „Bäckerei um die Ecke“ stark macht, war dafür verantwortlich, in der „Lux-Leaks“ Affäre einen Untersuchungsausschuss gegen seinen Freund Juncker zu verhindern. Die Grünen forderten Aufklärung in Bezug auf die Steuergeschenke, die Juncker in seiner Zeit als Finanzminister von Luxemburg amerikanischen Unternehmen gewährte. Schulz erklärte kurzerhand, dass das beantragte Mandat für den Ausschuss nicht rechtskonform sei. Tatsächlich wurde aber schon 1977 beschlossen, dass die EU-Mitgliedsstaaten in Steuerfragen zusammenarbeiten. Kurzum, es gab eine Rechtsgrundlage. Letztlich sind die Enthüller von Junckers Steuerdeals vor Gericht gelandet. Doch all das prallt an Martin Schulz ab, als hätte er schon jetzt eine Teflonschicht. Eine Lösung im Kampf gegen Steueroasen sieht er hingegen in einem europäischen Finanzminister, wie er in Worms erzählte. Also noch mehr europäische Bürokratie und somit das Gegenteil von dem, was viele Bürger wollen. Genau diese Politik von oben herab, führte direkt in den Brexit. Auch hier zeigte der Mann, den das „Titanic“-Magazin zur Ein-Mann-Troika ernannte, ein weltfremdes Denken und sprach im „heute-journal“, dass Europa nun eine „echte“ Regierung benötige, was unweigerlich zu der Frage führt, um welche Regierung es sich in seiner Ära handelte.

EIN BEKENNTNIS ZUR DEMOKRATIE UND PRESSEFREIHEIT
Martin Schulz ist unterwegs in Deutschland, um sich die Sorgen der Deutschen anzuhören. Dazu gehört auch der Terrorismus, dessen schreckliche Fratze sich spätestens mit dem Attentat in Berlin auch hier gezeigt hat. Erneut findet er wohlklingende, wie auch altbekannte Sätze, denen man kaum widersprechen möchte, denen aber eine inhaltliche Kraft, eine Vision, fehlt. „Wir dürfen nicht unsere Lebensform ändern. Die Antwort muss sein, dass wir uns nicht einschüchtern lassen“, was das für einen Bundeskanzler konkret bedeutet, erklärte er allerdings nicht; genauso wenig fand er Worte für das große Dauerthema Integration. Er betonte jedoch, dass es keine religiöse Begründung für Terrorismus gebe und „Männer und Frauen gleichberechtigt seien“. Scharfe Worte fand er hingegen für die AfD, für Björn Höcke und die Geschichtsvergessenheit einiger Menschen. Höcke bezeichnete er als „Schande für die Bundesrepublik“. Schulz beklagte zu Recht die rechtspopulistischen Tendenzen in Europa, vermied es aber erneut, die Frage nach dem „Warum?“ zu stellen. Stattdessen referierte er auch an dieser Stelle über die Vorteile eines starken Europas. Man könnte ihm nun zurufen, dass es zu den Sorgen und Nöten der Bürger auch gehört, zu verstehen, warum immer mehr Menschen eine Alternative im Wählen von Parteien wie der AfD sehen. Immerhin sagte er selbst: „Vertrauen zurückgewinnen heißt, die Sorgen ernst zu nehmen!“
„Die Presse hat die Aufgabe, Leuten wie mir, aufs Maul zu schauen.“

Am Ende widmete sich Schulz noch dem amtierenden amerikanischen Präsidenten Trump und dessen gestörten Verhältnis zur Presse. „Ein Wahlkampf der Diffamierung, wie ihn Trump führte, wird hoffentlich in Deutschland niemals stattfinden (…) Journalisten haben das Recht und die Pflicht, Leuten wie mir aufs Maul zu schauen (…) Wer Lügenpresse sagt, lehnt Grundwerte der Demokratie ab.“ Ein Aspekt, bei dem auch der WO! Redakteur dem Kanzlerkandidat nur uneingeschränkt beipflichten kann. Natürlich kann das für Personen wie Martin Schulz immer wieder dazu führen, dass man mit Handlungen aus seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Bisher hat das dem „Schulz-Hype“ keinen Abbruch getan. Bei Redaktionsschluss lag der Berufspolitiker bei der Kanzlerfrage gleichauf mit Angela Merkel und erreichte Zustimmungswerte von 44%. Es wäre schön, das Wiedererwachen einer echten Sozialdemokratie nach der Bundestagswahl zu erleben. Dazu bedarf es allerding ein wenig mehr, als nur markige Sprüche zu verbreiten. Sollte Herr Schulz die Wahl gewinnen, wird er sich an Taten messen lassen müssen. Die Bürger werden schauen, ob die „Zeit für Gerechtigkeit“ tatsächlich gekommen ist. Eine Große Koalition einzugehen, wäre dabei die denkbar schlechteste Option für den ehemaligen Buchhändler.