Wann sinniert man eigentlich über ein Wort wie „Nächstenliebe“? Hauptsächlich an Weihnachten, oder? Dabei gäbe es doch im Alltag so viele Gelegenheiten, Nächstenliebe zu zeigen – nur tut unsere Ich-Gesellschaft das nur noch ganz selten. Von unseren Politikern gleich ganz zu schweigen…
Ja, auch Politikern würde man gerne dringend raten, dass sich ihr Handeln in erster Linie aus Nächstenliebe speisen sollte. Wenn aber Menschen, die tagelang ihr Leben auf offener See riskiert haben, vor den Küsten Europas stranden, weil sie zuhause auf offener Straße erschossen worden wären, ist es plötzlich vorbei mit der Nächstenliebe. Dann würden wir sie am liebsten wieder in ihren schrottreifen Booten zurück nach Afrika schicken, weil wir hier ja keinen Platz haben für Leute, die anderswo verfolgt werden und anders sprechen, anders denken und vor allem: anders aussehen. Stattdessen geben wir den Afrikanern, die über Jahrzehnte hinweg von den Europäern wirtschaftlich aufs Übelste über den Tisch gezogen wurden, den zynischen Rat, ihre Probleme doch bitte selbst in den Griff zu bekommen. Für Flüchtlinge haben wir zivilisierten Europäer kein Geld, das geben wir lieber für milliardenschwere Militäreinsätze aus, weil wir – warum auch immer – für Ordnung in Afghanistan sorgen müssen. Scheiß auf die Nächstenliebe, dort gibt es wirtschaftlich einfach mehr zu holen, als bei diesen Barbaren in Afrika. Die sollen sich am besten selbst die Köpfe einschlagen, dann haben wir ein Problem weniger.
Ja, ich höre den Otto Normalverbraucher schon wieder im Hintergrund grummeln, dass wir doch erst mal den Leuten in Deutschland helfen sollen, bevor wir anderen Ländern finanzielle Hilfe zukommen lassen. Das zeigt, wie glänzend die Arbeit der einheimischen Mainstream-Medien funktioniert, die den Leuten erfolgreich eingeredet haben, dass Deutschland als barmherziger Samariter durch Europa zieht und mit seinem großen Geldsack in Not geratene Länder rettet. Nein Freunde, wir haben mit unseren Steuergeldern nicht Irland oder Griechenland gerettet, sondern in erster Linie Banken, Investmentgesellschaften, Aktionäre und Kapitalanleger; selbstredend, dass die meisten davon aus Deutschland kamen. Man könnte auch sagen, dass das exportstärkste Land Europas in erster Linie seinen eigenen Arsch (und den von BMW, Allianz u.v.a.), aber gewiss nicht den von in Zahlungsnot geratenen Ländern gerettet hat. Gleichwohl darf man in diesem Zusammenhang natürlich anprangern, dass die gleichen Politiker bei einer minimalen Erhöhung der Hartz IV-Bezüge die Moralkeule schwingen, als würde dadurch der finanzielle Untergang des Landes drohen. Kann sich jemand, der auf fünfstellige Bezüge kommt, überhaupt noch in die Lage einer Person versetzen, die ab Zwanzigsten kein Geld mehr hat? Wie denn? Aus purer Nächstenliebe etwa? Aus Nächstenliebe hat unsere Regierung zum letzten Mal gehandelt, als es darum ging, das Kapital und damit in erster Linie sich selbst zu retten. Da war plötzlich Geld da für die gleichen, die anschließend – dank steigender Kurse – sowieso als Sieger aus der Finanzkrise hervorgegangen sind. Da wurden sinnlos Milliarden in ein krankes Bankensystem gepumpt, das nach der großen Finanzkrise so viele Millionäre wie jemals zuvor in Deutschland produziert hat. Geld, das anderswo fehlt, und wo Pflegekräfte, Ärzte, Lehrer und Pädagogen für viel zu wenig Lohn ihre Arbeit unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen verrichten. Wie viel Nächstenliebe steckt in einer Gesellschaft, die es zulässt, dass diejenigen für ihre wertvolle Arbeit zu gering entlohnt werden, für die Nächstenliebe tatsächlich noch eine Berufung ist?
Ich wundere mich immer wieder, wie ruhig das Volk immer noch ist, wenn man bedenkt, dass man zwar schon immer beschissen wurde, aber wohl noch nie so offensichtlich wurde das Kapital in Deutschland derart schamlos von unten nach oben verteilt, dass man zwangsläufig mit der geballten Faust in der Tasche die Diskussion über eine „Reichensteuer“ für diejenigen verfolgt, die gerade darüber nachdenken, ob sie sich noch einen weiteren Jaguar in ihre Garage stellen sollen. Um uns diese Schmarotzer der Gesellschaft ein bisschen sympathischer zu machen, dürfen die Geissens im Fernsehen mit Geld um sich werfen, weil die trotz ihres Reichtums ganz normale Proleten geblieben sind. Ist das nicht sympathisch? Und damit die latent unzufriedene Mehrheit weiter die Fresse hält, bekommt sie „Familien im Brennpunkt“, „Mitten im Leben“ und andere Scripted Reality-Sendungen vorgesetzt, damit denen, die sowieso schon nicht mehr richtig leben, vorgegaukelt wird, dass es anderen noch viel dreckiger geht. „Wow, außerdem sind die im Fernsehen sogar noch dümmer als ich selbst“. Wie praktisch. Für alle anderen rückt man ein paar Banalitäten, wie die Teilnehmer des nächsten Dschungelcamps oder wer DSDS gewinnt, derart in den Vordergrund, dass die somit anderweitig beschäftigte Masse nicht zur Kenntnis nimmt, wie die Große Koalition im Hintergrund schon längst das macht, wofür sie sich von der Mehrheit in Deutschland legitimiert fühlt: den Bürger so richtig abzuzocken. Komisch, dass man von dem Slogan der SPD im Wahlkampf – „mehr Steuergerechtigkeit schaffen“ – plötzlich überhaupt nichts mehr hört. Und über allem thront eine Kanzlerin, die Mantra-artig wiederholt, wie gut es uns allen geht und die Nächstenliebe nur dann zeigt, wenn sie mal wieder von den USA abgehört wird und öffentlich so tun muss, als sei das ein harmloser Kavaliersdelikt. Aber was will man von dieser duckmäuserischen DDR-Tante auch erwarten? Nächstenliebe schon gar nicht, das sieht man ihr bereits an ihrer Trauermiene an.