„VIELLEICHT HABEN WIR MENSCHEN EINEN GENDEFEKT!“

Nach dem großen Erfolg der 2018 uraufgeführten Inszenierung des von Feridun Zaimoglus und Günther Senkel verfassten Stücks „Siegfried Erben“, darf Regisseur Roger Vontobel in diesem Jahr den Dom erneut ins rechte Licht setzen. Dass er das kann, bewiesen er und sein Team eindrücklich. Als wäre die Bühne eine riesige Leinwand, schuf der Schweizer kinotaugliche Bilder, untermalt vom eindringlichen Kehlkopfgesang des mongolischstämmigen Sängers Enjarghal Dandarvaanchig. Eine gezielt eingesetzte Videotechnik erzeugte unter dem sommerlichen Himmel zudem den einen oder anderen Aha-Effekt. Ein intensiv agierendes Ensemble trug sein Übriges zum Erfolg des Stückes bei. Der Lohn waren eine durchweg positive Presse und ausverkaufte Veranstaltungen, sodass es allen Beteiligten leicht fiel, erneut miteinander zusammenarbeiten zu wollen. WO! sprach mit dem 45-jährigen Theatermacher über dessen Begeisterung für Worms und seine Liebe zu Filmen und Serien.

WO! Vor vier Jahren sprachen wir bei der PK zu „Siegfrieds Erben“. Damals hegten Sie den Wunsch, auch die Weinlandschaft Rheinhessens kennenzulernen. Hatten Sie dazu zwischenzeitlich Gelegenheit gehabt?

Düsseldorfer Schauspielhaus; Roger Von Tobell, Regisseur, Theater, Gilgamesh

Ich konnte tatsächlich ein bisschen Weinluft schnuppern. Der haupt- verantwortliche Tontechniker, Marius Feth, hatte mir erzählt, dass er eigentlich ein Winzersohn ist und sein Bruder das elterliche Weingut weiterführt (Anmerkung der Red.: Weingut Feth in Flörsheim Dals- heim). Florian habe ich kurz darauf kennengelernt und mittlerweile zweimal besucht. Er hat mir viel über das Thema Wein beigebracht. Ich habe auch fest vor, ihn in diesem Jahr wieder zu besuchen.

WO! Aber einen eigenen Wein wie Jimi Blue Ochsenknecht haben Sie noch nicht?

(lacht): Nein, aber so ein eigenes Etikett wäre schon schön.

WO! Sie haben nicht lange gezögert und sich schon früh erneut für die Festspiele verpflichten lassen. Was reizt Sie an Worms und den Nibelungen Festspielen?

In diesem Jahr inszeniere ich den großartigen Text von Ferdinand Schmalz, ich schätze den künstlerischen Leiter Thomas Laue sehr und ich habe die Arbeit an „Siegfrieds Erben“ in Worms in sehr guter Erinnerung. Das war eine künstlerisch sehr wertvolle Arbeit für mich. Und auch all die Menschen, die hier involviert sind, habe ich als Bereicherung erlebt, sodass ich gerne wieder hierher zurückgekehrt bin.

WO! Was war für Sie die neue Erfahrung?

Alleine das Bespielen einer derart großen Bühne und das Prinzip Open Air zu erforschen und zu schauen, wie man die Realität des Doms künstlerisch integriert. Und gerade in der stressigen Endphase zeigte sich, dass wir eine sehr besondere Gemeinschaft hatten.

WO! Wie schafft man es eigentlich als Regisseur, in dieser kurzen Zeit eine Truppe zu formen?

Das ist ganz schwer zu sagen. Das Wichtigste ist, Interesse zu zeigen und als Regisseur ein Partner zu sein, um ein Miteinander auf Augen- höhe zu schaffen.

WO! Auffällig war an Ihrer Inszenierung, dass Sie eine sehr filmische Herangehensweise wählen und die Bilder wie geschaffen für die Leinwand aussahen. Ist Kino eine Inspirationsquelle für Sie?

Ja, das ist so. Ich bin ein Kind meiner Zeit. Ich bin eigentlich nicht besonders theatergeprägt aufgewachsen, sondern vielmehr mit Filmen. Oft werde ich auch von der Mächtigkeit der Bildwelten moderner Serien inspiriert.

WO! Wäre die Regie bei einem Kinofilm etwas, was Sie interessieren würde?

Ich liebe grundsätzlich Theater, da es so unmittelbar und nur für den Moment ist. Ein Film hingegen ist immer da. Open Air Theater kommt dem filmischen Inszenieren ein wenig nahe, da auch hier – ähnlich wie bei Dreharbeiten an Originalschauplätzen – alles mitspielt. Wenn es an einem Abend kalt ist, wird die Vorstellung eine ganz andere sein, als bei warmem Wetter. Vor dem Beruf des Filmregisseurs habe ich große Ehrfurcht. Selbst einen Film zu inszenieren, hätte ich aber auf jeden Fall Lust.

WO! Sie haben gerade gesagt, dass Theater nur für den Moment ist. Ist das nicht auch enttäuschend, dass so viel Arbeit nur für diesen Moment ist?

Es ist Fluch und Segen, auch im Sinne der Nachhaltigkeit. Andererseits hat das Theater sehr viel mit dem Leben zu tun. Die Erlebnisse, die wir im Laufe des Lebens haben, sind ebenfalls flüchtig.

WO! Nachhaltigkeit ist ein gutes Stichwort. Wie kann die am Theater aussehen?

Das ist für mich ein großes Thema. Ich leite ja selbst in Bern ein Theater. Da überlegen wir oft, wie man Produktionen teilen kann, oder ob man mit anderen Theatern zusammenarbeitet, sodass es ressourcenschonend ist. Ich weiß, dass man das in Worms auch tut. Allerdings bin ich dafür nicht der richtige Ansprechpartner.

WO! Nachhaltig ist auf jeden Fall nicht das Lernvermögen der Menschen. 800 Jahre nach der ersten Veröffentlichung des

Nibelungenliedes scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Warum lernen Menschen nichts aus den mahnenden Worten der Kunst?

Ja, das ist richtig. Vielleicht haben wir als Menschen einen Gendefekt, der uns immer wieder dazu verführt, eine bessere Welt schaffen zu wollen? Da aber keiner über alle Informationen verfügt und auch nicht alle hinter dieser Idee stehen, kommt es irgendwie immer wieder zu einer Art Strudel. Eigentlich wissen wir als Menschen, dass unser gegenwärtiges System überkommen ist und wir uns neu orientieren müssten.

WO! Wo sehen Sie die Parallelen zu dem diesjährigen Stück?

Im Fokus unserer Erzählung stehen die beiden Frauen Kriemhild und Brünhild, die Dinge verändern wollen, aber auf eine Welt von Männern treffen, die das nicht wollen. Eine Situation, die sich von der gegenwärtigen kaum unterscheidet. Manchmal demoralisiert mich die aktuelle Situation. Ich vergleiche das mit dem Bild eines Tankers, der auf etwas zurast und deswegen schon frühzeitig beginnen müsste zu bremsen. Im Englischen gibt es den schönen Begriff inertia, also Trägheit, und die ist enorm, was wiederum beängstigend ist.

WO! Im Nibelungenlied ist es ausgerechnet eine der beiden Frauen, die den Untergang heraufbeschwört.

Ja, im Originaltext ist das so. Im Text von Ferdinand Schmalz wird jedoch die Frage gestellt, ob ein anderer Ausgang nicht doch möglich wäre. Ich denke, es ist wichtig, niemals aufzuhören zu fragen und zumindest spielerisch durchzudenken, wo es uns hinführt, wenn wir uns weiter so bewegen.

WO! Wir danken Ihnen für das Gespräch!

 Das Gespräch wurde geführt von: Dennis Dirigo / Foto: Presse