TV-Kritik zu der Serie „Ferdinand von Schirach: Glauben“
Es war eine Anklage, die die Stadt Worms und Deutschland Anfang der 90er Jahre erschütterte: Kindesmissbrauch im großangelegten Stil. Was folgte, war ein aufsehenerregender Prozess gegen 25 Männer und Frauen, der mit einem Freispruch für alle Angeklagten endete. Denn, wie sich zeigte, war es der „Glauben“ an einen Missbrauch, der die ermittelnden Personen antrieb und Unschuldige zu Schuldigen machte.
Deutschlands bekanntester schriftstellernder Jurist, Ferdinand von Schirach, ließ sich von diesem ungeheuerlichen Fall zu einer Serie inspirieren, die zunächst bei dem Streaming Kanal RTL + seine Premiere feierte und nun am 1. und 8. Dezember 2021 bei VOX ausgestrahlt wird. Am Anfang der ersten Folge steht ein Kinderarzt. Dieser untersucht ein Mädchen und kommt zur „zweifelsfreien“ Diagnose, dass das Kind erheblichen Missbrauch erlebt hat. Die Assistentin des Arztes liegt anschließend mit ihrem Freund im Bett, beide verbreiten diese Information via Smartphone in die Weiten der Stadt Ottern, so heißt die Kleinstadt, in der es zu diesem Missbrauch gekommen sein soll. Das reale Vorbild ist indes Worms. Dort geschah 1992 genau diese Untersuchung bei einem Kinderarzt. Die Folge war eine beispiellose Hexenjagd, bei der schnell die Beschuldigten öffentlich vorverurteilt wurden. Bevor die Serie wieder an den Schauplatz des potentiellen Missbrauchs zurückkehrt, wird der Zuschauer mit einer zunächst eigentümlichen Rahmenhandlung konfrontiert, die diesen nach Berlin führt. Dort lebt der brillante, aber etwas derangierte Strafverteidiger Richard Schlesinger. Nach dem Tod seiner Frau, die näheren Umstände werden nicht genannt, ist dieser ein Wrack. Er trinkt zu viel und hat überdies Ärger mit der chinesischen Mafia. Als hätte Schirach es sich zur Aufgabe gemacht, das kleine Krimi Einmaleins abzuarbeiten, frei nach dem Motto „welches Klischee fehlt noch?“, gibt es auch noch eine mysteriöse Frau namens Azra. Die arbeitet offenbar für die Asia-Gangster als Geldeintreiberin und ist so elegant wie gefährlich. Dennoch scheint sie das Herz am rechten Fleck zu haben und Sympathien für den strauchelnden Anwalt zu hegen. Der soll es ihr auch nicht übelnehmen, dass sie ihn zunächst vermöbeln muss, um ihn anschließend zu versorgen.
Wären da nicht die beiden Hauptdarsteller Peter Kurth und Narges Rashidi, könnte man schnell dazu neigen, weg zu zappen. Nachdem Schlesinger vor Gericht mit Hilfe seines flinken Verstands einen anderen Fall löst und alle anderen Justizmitarbeiter wie Anfänger dastehen lässt, ist es ausgerechnet Azra, die dafür sorgt, dass es Schlesinger nach Ottern verschlägt. Dort soll er jenen Kneipenwirt verteidigen, in dessen Kneipe im Keller angeblich die Orgien stattfanden und gefilmt wurden. Azra begründet den Auftrag damit, dass sie den Gastronomen etwas fragen muss. Dazu muss er frei sein. Schlesinger nimmt an und begibt sich mit der toughen Lady in die Provinz, wo man übrigens die offenbar deutschlandweit bekannte Azra auch kennt. Hat man Schirachs Ausflüge in diese etwas trivialen Niederungen des Krimigenres erst mal hinter sich, besinnt sich der Autor endlich seiner Stärken und liefert einen spannenden Justizthriller. In einer Szene in der Mitte der Serie diskutiert Schlesinger, der aufrechte Vertreter von Recht, mit jener Frau, die mit ihren Befragungen den Kindern den angeblichen Missbrauch entlockte, ausgiebig über Moral und warum es wichtig ist, das Recht über die Moral zu stellen. Ein zeitloses Thema, denn schließlich sind es gerade in diesen aufgeheizten Zeiten oft selbsternannte Hüter der Moral, die sich über die Grenzen von Freiheit und Recht hinwegsetzen wollen. In einem Interview mit der Berliner Zeitung 1997 erklärte die Frau, die die Befragungen führte, dass sie unabhängig von dem lupenreinen Freispruch der Überzeugung sei, dass es moralisch richtig war, den Eltern die Kinder wegzunehmen. Schlesinger entgegnet den moralischen Ausführungen im Film, dass wir, wenn man der Empörung den Vorrang gebe, bald wieder „bei den Folterwerkzeugen“ landen. Daher mache ein Verteidiger sich nicht mit seinen Mandanten gemein, wenn er sie zu verstehen versuche. Das ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die nicht oft genug wiederholt werden kann.
Was in Worms passiert ist und in dem fiktiven Ottern nachgespielt wird, kann auch heute, rund 25 Jahre später, wieder geschehen. Insofern ist „Glauben“ ein wichtiger Film, der zugleich ein erschütterndes Zeugnis davon ist, wie schlimm der Staat und die Hauptprotagonisten, im Glauben richtig zu handeln, Falsches getan haben. Von Einsicht fehlt bis heute jede Spur. Die eigentliche Tragik, dass die Kinder in dem Kinderheim, wohin sie vom Jugendamt in Obhut gegeben wurden, schließlich tatsächlich missbraucht wurden, wird am Ende der siebten Folge kurz abgehandelt. Die Leben der damaligen 25 Angeklagten und der Kinder wurden unwiederbringlich zerstört, alleine durch den Glauben, auf der Seite der Guten und Gerechten zu sein.
Ausstrahlungstermine: 1. und 8. Dezember ab 20:15 bei VOX