Autor: Bernd Werner

Die einfach anmutende Aussage in der Überschrift ist im diametralen Gegensatz hierzu für den aktuellen politischen Diskurs in Deutschland von großer Bedeutung. Ausgesprochen wurde sie von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert in der Wormser Paulus-Kirche am 9. September 2016 anlässlich des Jubiläums 800 Jahre Dominikaner-Orden. Lammert beantwortete mit seinem „Warten wir mal ab“ die von ihm selbst in seiner Festrede aufgeworfene Frage, ob der Islam demokratiefähig sei. Von großer politischer Bedeutung ist diese Äußerung deshalb, weil diese Frage nach der Demokratiefähigkeit des Islam derzeit von politisch Interessierten in Deutschland landauf landab aufgeworfen und – zumeist gemäß politischer Ausrichtung und Weltanschauung – beantwortet wird.

Nicht minder deutlich ist jedoch Lammerts Begründung seiner Aussage: Schließlich habe das Christentum auch Jahrhunderte gebraucht, um die Demokratie hinzunehmen (vgl. Wormser Zeitung vom 12.09.2016, S. 11). Für diejenigen, die sich mit dieser Materie (Kirchengeschichte in den letzten 200 Jahren) ein wenig befasst haben, ist diese Aussage sachlich, aber weder überraschend noch neu. Denn es ist schlicht und einfach so, wie Lammert sagte. Gibt es doch etwa vor der Französischen Revolution weder einen Konzilsbeschluss der Katholischen Kirche noch eine entsprechende Forderung einer der evangelischen Kirchen, worin die Einführung einer Demokratie als Staatsform gefordert wird.

Wenn aber der „zweite Mann im Staat“, wenn der Präsident des Deutschen Bundestages, selbst ein katholischer Christ, in einer katholischen Kirche anlässlich der Jubiläumsfeier eines katholischen Ordens viele Katholiken auf diesen Sachverhalt hinweist, dann mussten auch Leute diese Aussage sich anhören, die diese Tatsache bisher gerne verdrängt oder ignoriert oder sie sich einfach nicht bewusst gemacht haben. Lammerts Aussage lautet mit anderen Worten (freundlich formuliert): Die Katholische Kirche musste erst von außen dazu gebracht werden, sich mit der Demokratie zu arrangieren, also die Demokratie hinzunehmen, was ihr erst im Zweiten Vatikanum (1962-65) gelang (vgl. die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ von 1965). Aber auch in den Folgejahren nach dem zweiten Vatikanum gelang der Katholischen Kirche eine vollständige Akzeptanz der Staatsform Demokratie im Grunde nicht. Diese Einschätzung wird u. a. durch die Tatsache belegt, dass noch heute, also über 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanum, der letzte absolutistisch geführte Staat in Europa der Vatikan ist. Die einzige halbwegs demokratische Institution im Vatikan ist die Papst-Wahl (durchgeführt allerdings ausschließlich von Kardinälen, die von Vorgänger-Päpsten zuvor ernannt wurden). Bischöfe hingegen werden in der Katholischen Kirche bis heute nicht gewählt; und Frauen kommen per se nicht in ein katholisches Bischofsamt.

Aber damit noch nicht genug. Weiter führte Lammert in Worms aus:

„Religionen handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen.“

Diese Äußerung Lammerts wirft viele Fragen auf. Lammert ging in seiner Rede auf die folgende ein: Welchen Beitrag können Religionsgemeinschaften heute für die Demokratie in Deutschland eigentlich noch leisten? Zu der Aussage im „Gemeinsamen Wort“ der Evangelischen Kirche(n) Deutschlands (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz „Demokratie braucht Tugenden“ aus dem Jahre 2006 sagte Lammert in der Paulus-Kirche (etwas salopp): „Nun, Beten schadet zwar nicht, ist aber nicht ausreichend.“ Bei dieser Feststellung mussten in der Wormser Pauluskirche gleich mehrere Dominikaner-Patres lächeln.

Mit dieser Äußerung machte Lammert aber zugleich deutlich: die Politik bestimmt die Entwicklung in unserem Land. Sie geht den Religionsgemeinschaften voran – und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Für Lammert ist Deutschland zuerst einmal eine Demokratie – und erst danach kommen die verschiedenen Weltanschauungsgemeinschaften. Aber wenn die Politik auch gegenüber den Religionsgemeinschaften den gesellschaftspolitischen Takt angibt, dann haben Lammerts o. a. Äußerungen nicht nur eine politische, sondern zugleich auch eine enorme religionspolitische (und damit auch innerkatholische) Bedeutung, nämlich eine weitere Herabsetzung der Bedeutung der Katholischen Kirche für unseren demokratischen Staat.

Zudem sagte Lammert (an anderer Stelle):

„Zu den Ergebnissen unserer aufgeklärten Zivilisation gehört die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage“

Diese Äußerung findet sich in der Rede Lammerts „Politik und Religion. Erwartungen und Ansprüche“, einer Rede, die Lammert am 23. August 2013 in Augsburg hielt. Lammert machte mit der oben zitierten Äußerung deutlich, dass in einer aufgeklärten Gesellschaft, wie das in Deutschland für unsere Gesellschaft ja viele und dies zurecht fordern, die Wahrheitsfrage von Religionsgemeinschaften gar nicht beantwortet werden kann, – schon gar nicht allgemeinverbindlich. Die Philosophie gibt ihm da Recht. Stellt man nun diese Äußerung neben das zuerst angeführte Lammert-Zitat („Religionen handeln von Wahrheiten“), so wird deutlich: Lammert hat damit die Grenzen der Bedeutung von Religionsgemeinschaften ganz allgemein – und damit auch die der Katholischen Kirche – für die demokratisch verfasste Bundesrepublik Deutschland sehr eng gezogen. Selbst die Suche nach Werten für den innergesellschaftlichen Umgang kann gemäß der zuletzt zitierten Lammert-Äußerung nicht einmal mehr in erster Linie die Sache der Religionsgemeinschaften sein. Das können im Grunde nur noch solche Interessensgemeinschaften, die der zweiten zitierten Aussage Lammerts zustimmen können, was eigentlich keine Religionsgemeinschaft kann, wenn sie offen und ehrlich Position bezieht.

Noch wichtiger erscheint (mir) aber bei der gesamten Lammertrede die übergeordnete Frage: Aus welchem Grund und mit welchem Ziel konfrontierte der liberale und aufgeklärte katholische Christ Lammert so viele seiner katholischen „Brüder und Schwestern“ an einer derart prominenten Stelle mit seiner offenen und letztlich auch kirchenkritischen Positionierung. Meinte Lammert etwa, dass seine nicht-liberalen, unaufgeklärten katholischen Mit-Christen diesen Hinweis nötig haben, – oder etwa der Dominikanerorden, – oder am Ende gar die ganze Katholische Kirche?

Das, übrigens von den Dominikanern selbst gewählte, Motto von Lammerts Festrede hieß: „Demokratie wagen“. Was hätte Lammert womöglich alles gesagt, wenn das Motto der Festrede „Transparenz wagen“ oder „Offenheit wagen“ oder „Ehrlichkeit wagen“ gelautet hätte?
Bernd Werner,
Für den Humanistischen Verband Deutschland (HVD),
Landesverband RLP, Gruppe Worms

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