Die Messlatte liegt hoch, nachdem im letzten Jahr das Stück „Siegfrieds Erben“ vom Publikum und Presse gleichermaßen begeistert aufgenommen wurde. Die Chancen liegen nicht schlecht, dass das diesjährige Stück der Nibelungen-Festspiele am Ende der Saison durchaus für „Überwältigung“ sorgen wird.

Mit Klaus Maria Brandauer hat man einen zugkräftigen Namen an Bord geholt, der zusätzlich für schauspielerische Qualität steht. Auch das Kreativteam aus Regisseurin Lilja Rupprecht und Autor Thomas Melle kann sich sehen lassen. Der in Bonn geborene Autor Melle gehört derzeit zu den Kritikerlieblingen des deutschen Literaturbetriebs. Bevor er seinen ersten Roman „Sickster“ verfasste, schrieb er für verschiedene Bühnen. In vielen seiner Texte, die in der Jetztzeit verortet sind, verarbeitet der Autor seine psychische Erkrankung. Mit dem Stück „Überwältigung“ verlässt er erstmals die Gegenwart, um sich mit einem Kapitel Vergangenheit auseinanderzusetzen. Lilja Rupprecht, 1984 in Hamburg geboren, begann ihre Regiekarriere zunächst als Regieassistentin am renommierten Thalia Theater. Seit 2014 arbeitet sie als freiberufliche Regisseurin und inszenierte seitdem zahlreiche Stücke („Harold und Maude“, „Jeff Koons“). „Überwältigung“ ist ihre erste Arbeit auf einer Freilichtbühne.

Im Rahmen der Leseprobe gewährte das Team erste visuelle Einblicke in das Stück. Verteilt im oberen Foyer des Theaters wurden Fotos der Kostümentwürfe und ein Modell des Bühnendesigns präsentiert. Wieder einmal zeigt sich die Welt der Nibelungen im Auge des künstlerischen Teams als eine der modischen Widersprüche und prägnanter Architektur. War das Design der letztjährigen Aufführung „Siegfrieds Erben“ klar im Mittelalter zu verorten, fällt es einem auf den ersten Blick nicht einfach, „Überwältigung“ einzuordnen. Folklore trifft auf Flower Power, so könnte man am ehesten die vorgestellten Kostümentwürfe umschreiben, weshalb es kaum verwundert, dass auf einzelnen Bildern „Sergeant Peppers lonely heart club band“ entgegen lächelt. Das Bühnenbild verdeckt wiederum den Dom teilweise mit einer archaisch anmutenden Felslandschaft.

WO! sprach am Rande der Leseprobe mit Thomas Melle und Lilja Rupprecht über die Herausforderung, sich dem Nibelungenepos zu stellen und wie es zur Zusammenarbeit für das Stück „Überwältigung“ kam.

WO! Wie kam es dazu, dass Sie für die Nibelungen-Festspiele tätig wurden?
Rupprecht: Thomas Laue hatte mich gefragt, ob ich Interesse hätte, bei den Nibelungen-Festspielen Regie zu führen. Das hatte ich sofort. Anschließend stellte sich die Frage nach dem Autor und da ich mit Thomas Melle schon eine Weile nach einem gemeinsamen Projekt Ausschau gehalten hatte, saßen wir schnell zusammen in einem Boot.
Melle: Lilja Rupprecht hatte mich vorgeschlagen. Da ich ihre Arbeit sehr schätze und feststellte, dass wir gut miteinander können, erschien mir das Angebot interessant, und ich nahm an. Außerdem war das Reizvolle, dass der Stoff so anders war als das, was ich bisher geschrieben habe.

WO! Herr Melle, was lockte Sie an der Herausforderung, sich einem 800 Jahre alten Stoff zu stellen?
Melle: Meine Bücher handelten oft von Erkrankungen, das letzte von meiner eigenen. Plötzlich waren aber da diese teutonischen Kriemhilds und Hagens, und ich weiß nicht, ob sie vielleicht in die Psychiatrie gehören, aber das wäre mir dann doch wohl eine zu enge Interpretation! Es war für mich etwas völlig Fremdes und dadurch Befreiendes.

WO! Hatten sie zuvor schon mal Berührungen mit dem Nibelungenmythos?
Rupprecht: Ich hatte ein paar Theaterinszenierungen gesehen, die sich mit dem Nibelungen-Mythos beschäftigten und hatte Friedrich Hebbels Stück schon vor einer Weile gelesen. Die anfängliche Distanz, die Thomas Melle zu dem Stoff hatte, gab es bei mir nicht. Es stellte sich dann natürlich die Frage, welchen Weg wir einschlagen, in welcher Welt wir uns mit diesem zwischenweltlichen Stoff verorten wollen. Mein erster Blick gilt erst mal der Überzeitlichkeit dieser Erzählung und der Unschärfe, die so ein Mythos mit sich bringt.
Melle: Ich hatte in der Schulzeit das Nibelungenlied gelesen und kürzlich auch den Hebbel-Text. Allerdings war dieser für mich beim Schreiben nicht relevant.

WO! Was war für Sie relevant?
Melle: Hebbel unternahm den Versuch, die Figuren zu psychologisieren und ein Trauerspiel zu verfassen. Für mich war das klassische Nibelungenlied maßgeblich, sowohl in der Übersetzung als auch im Original. Ich fand einerseits das Redundante in der Erzählung toll, andererseits aber auch das Grobe, Archetypische – und manchmal wieder das irrsinnig Präzise, fein Ausgearbeitete daran. Ich habe anschließend versucht, der Grobheit und Wuchtigkeit der Sprache zu entsprechen. Natürlich habe ich das transformiert, um meine eigene sprachliche Wucht zu entwickeln.
Rupprecht: Die Sprache erschafft ja bereits eine Ästhetik, und damit dann Bilder. Und Thomas Melles Texte kreieren eine ganz eigene Welt. In den Arbeiten mit meinem Team bewegen wir uns durch verschiedene Kosmen, sowohl was Spielweisen und Ausdrucksformen, als auch Inhalte und Themen angehen. Elemente antiker Theaterformen tauchen genauso auf wie ein performativer Ansatz.

WO! Welche Bedeutung hat für Sie der Untergangsmythos der Nibelungen?
Rupprecht: In Melles Stück gibt es, im Gegensatz zum Untergangsmythos der Nibelungen, für mich ganz viel blühendes Leben. Das spiegelt sich dann auch in dem von Ihnen angesprochenen Widerspruch in der Ästhetik wider. Natürlich geht es auch um menschliche Abgründe und um all das, wie uns das Leben ständig aus den Händen gleitet. Eine wichtige Frage in „Überwältigung“ ist, ob man aus seinen eigenen Fehlern lernen kann? Und ob das autonome Handeln dem unausweichlichen Schicksal etwas entgegenzusetzen hat?
Melle: Die Nibelungen sind natürlich auch ein komplizierter und belasteter Stoff. Insofern habe ich erstmal mit den Augen Ortliebs, also mit einer Art Kinderblick, auf die Geschichte geschaut. Ich dachte darüber nach, wie die Figuren anders hätten handeln können. Wie hätten sie es besser machen können? Oder geht das nicht, vielleicht wegen einer Art übergeordneter Dynamik? Und das ist schon die Grundfrage des Stücks – und damit gar nicht mehr naiv, sondern hochreflexiv und geschichtsbewusst.

WO! Das heißt, dass Sie den Nibelungen etwas Positives abgewinnen möchten?
Melle: Es ging mir mich nicht darum, einfach etwas Positives zu setzen. Sondern: Das Positive soll erst einmal möglich sein bei dieser schicksalsträchtigen, dunklen Geschichte. Ich erzähle sie nochmal und versuche mit Ortlieb einzugreifen. Ob es am Ende klappt oder nicht, das wird man in der Aufführung erfahren. Wir wissen zwar, wie es endet, aber natürlich werden wir das hier nicht spoilern!
Rupprecht: Das Tolle an dem Text ist für mich, dass es Momente gibt, in denen offenbar alles möglich ist.