„Die Kunst ist zwar nicht das Brot,
wohl aber der Wein des Lebens.“
(Jean Paul)

Liebe Leser,

Kultur! Die Chefredaktion war bei mir und sagte: „Hey, schreib doch mal wieder ein bisschen was über Kultur.“ Aha. Ich soll jetzt also über etwas schreiben, was de facto nicht in gewohntem Maß stattfindet (Vielleicht genau deshalb?). Über eine Branche berichten, die sich zwangsweise umorientiert, um sich das oben genannte Brot leisten zu können, die in Berlin auf die Straße geht und die es, wenn es noch länger so weiter geht, einfach nicht mehr geben wird.

Haben Sie sich schon gefragt, wie das Jahr 2021 kulturell aussieht? Ich habe mir mal Gedanken gemacht und eine kleine, nicht ganz ernstgemeinte (oder doch?) Utopie vorbereitet.

JANUAR: Die Wirtschafts- und Finanzminister in Deutschland betonen, wie gut man aus der Krise herausgekommen sei und dass alle Branchen ausnahmslos gerettet werden konnten.

FEBRUAR: Fastnacht fällt endgültig aus. Einzig die vielen Schilder mit „Helau“ an den Wormser Baustellen erinnern an die einstige fünfte Jahreszeit.

MÄRZ: Das Wormser Kino schließt seine Pforten. Der letzte Film ist ein Streifen von Matthias Schweighöfer, bei dem ihm ein Opossum ins Gemächt beißt. Das geförderte Programmkino, 60 km entfernt, zeigt übrigens denselben Film, da es der einzige war, der durch die deutsche Filmförderung gedreht wurde.

APRIL: Die Jugendmusikschule stellt den Betrieb auf unbestimmte Zeit ein. Die Lehrer, alles früher Berufsmusiker, gehen jetzt geregelten Jobs in der Industrie nach. Außerdem gibt es kaum noch Kinder, die ein Instrument lernen wollen, weil man mit diesen Dingern nirgendwo auftreten kann.

MAI: Der Versuch, aus den alten Kinoräumlichkeiten ein Rathaus II zu machen, zerschlagen sich in der Luft.

JUNI: Die Europameisterschaft startet mit vollbesetzten Stadien. Der Versuch, „Helene Fischer“ als dauerhaften Halbzeit-Act zu installieren, um damit ein Kulturzeichen zu setzen, scheitert früh und unerwartet.

JULI: Die Nibelungen Festspiele finden statt. Da die meisten Schauspieler ihren Beruf gewechselt haben, werden die Rollen dieses Jahr von Mitgliedern der KVG übernommen. Es gibt stundenlangen frenetischen Applaus.

AUGUST: Aus „Jazz und Joy“ wird „Joy“. Die vielen Hüpfburgen erfreuen die ganze Stadt.

SEPTEMBER: Die letzte Wormser Firma für Veranstaltungstechnik schließt ihre Pforten. Die dazugehörige Halle wird von einem Logistiker gekauft , der in Zukunft dort seine Oldtimersammlung abstellt.

OKTOBER: Die Lufthansa hat sich von der Krise bestens erholt und bietet nun Linienflüge von Worms nach Mannheim an.

NOVEMBER: Die letzten Wormser Kneipen schließen. Der Versuch, in den geschlossenen Gaststätten ein verteiltes Rathaus II zu errichten, scheitern früh.

DEZEMBER: Die Politik hört erstmals etwas von Kulturproblemen in Deutschland und will mit einem neuen Aufbauprogramm Unterstützung leisten. Das Geld ist für 2023 eingeplant.

Übrigens kann man etwas tun, um eben diese Utopie zu verhindern. Gehen Sie in die Kinos, die Kneipen, die Theater. Nehmen Sie Kulturangebote wieder wahr. Sonst wird es ganz schnell, ganz still in dieser Stadt und in diesem Land.

Bis nächsten Monat
Jim Walker Jr.

PS: Hey Chef, wirklich Kultur?!