„Viele haben nicht den Eindruck, dass sich die Ampel um ihre Anliegen kümmert“

Er ist einer der bekanntesten Politikwissenschaftler Deutschlands, der 1958 in Hagen geborene Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte. Dank seiner messerscharfen Wahlanalysen ist er regelmäßiger Gast im Fernsehen. Korte studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Pädagogik in Mainz und Tübingen. Seit der Gründung im Jahr 2006 ist er Direktor der NRW School of Governance in Duisburg, wo er auch regelmäßig Vorlesungen abhält. Seinen privaten Lebensmittelpunkt hat der renommierte Wissenschaftler jedoch in Worms. Wenn er nicht lehrt oder sich dem umfangreichen kulturellen Leben in Worms widmet, veröffentlicht Korte auch regelmäßig Bücher. Im Januar erschien sein neuestes Buch „Wählermärkte – Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik“ im Campus Verlag. WO! sprach mit dem Wahl-Wormser über sein neuestes Buch und über die Schwäche der Ampel und die Stärke der AfD.

WO! Ihr Buch ist betitelt mit dem Begriff „Wählermarkt“. Können Sie uns diesen Markt näher beschreiben bzw. was erwartet die Lesenden in Ihrem Buch?

Wie kommen Wahlentscheidungen zustande? Was motiviert Bürger zu wählen? Wie und durch was setzt sich ihre Entscheidung zusammen? Und was hat das für Auswirkungen auf das Entscheidungsverhalten der Politik? Meine Leitmetapher ist dabei der Wochenmarkt. Er hat Demokratiequalität. Mehrere Märkte sehe ich mir an, um das Wahlverhalten und die Regierungspolitik der Berliner Republik zu erklären: Wählermarkt, Parteienmarkt, Entscheidungs- markt, Medien- und Führungsmarkt, Erwartungsmarkt. Warum ist an einigen Ständen mehr los als an anderen? Warum meiden viele die Marktstände?

WO! Im Pressetext zu Ihrem Buch appellieren Sie, den nächsten Wahlen mit Gelassenheit entgegenzuschauen. Woher nehmen Sie im Angesicht der Prognosen diesen Optimismus? Bei den Hauptwahlen (Landtagswahlen und Bundestagswahlen) agieren die sicherheitskonservativen deutschen Wähler bislang immer gleich: mittig, moderat, mittelmäßig. Es werden Amtsinhaber gewählt, Koalitionen bestätigt und das Bekannte dem Unbekannten vorgezogen. All das haben wir zuletzt in Hessen und Bayern erlebt. Damals war auch schon Polykrise und hohe Unzufriedenheit messbar. Wer nur die extremen Ränder ansieht, verliert den Blick für die breite politische Mitte. Zugegeben, derzeit normalisiert sich die Wahl von Radikalen. Sie legen zu. Aber es ist kein Automatismus zu immer mehr. Neu ist eher die Tonalität von Staatsverachtung – auch bei den politischen Mitte-Wählern.

WO! Die Stärke der AfD scheint aus der Schwäche der Ampelregierung zu resultieren. Ver- steht die Ampel ihre Wählerinnen und Wähler nicht mehr?

Das Grundbedürfnis nach Sicherheit ist gestört. Grundvertrauen erodiert. Dazu hat auch die wenig verlässliche Politik der Berliner Ampel beigetragen. Gesprächsstörungen zwischen Regierten und Regierenden sind die Folge. „Niemand hört auf mich“ – sowas hat sich seit Corona verstärkt. Wer sich permanent in Zeiten von Vielfachkrisen seine Sicherheit erarbeiten muss, ist schnell erschöpft. Da hört man auch gerne auf einfache Antworten, die aber in komplexen Gesellschaften nie Probleme lösen.

WO! Oft wirkt es, als könne die Ampel ihre Politik nur unzureichend erklären. Teilweise erscheinen Entscheidungen erratisch, wie zuletzt im Umgang mit den Landwirten. Unterschätzt die Ampel die Macht der Kommunikation?

Die Kommunikation zu Dritt ist schwieriger als zu Zweit. Die Kanzlerpartei ist mit einem sehr geringen Mandat von uns Wählern ausgestattet und gegenüber grün-gelb auch systematisch in der Minderheit. Interessenunterschiede werden nicht nur sichtbarer, sondern die Ampel hat es verlernt, eine Konfliktregulierung zu schaffen, die koordiniert trägt. Aber vor der Kommunikation liegt die Problemlösung: Wer die bedrückenden Alltagsprobleme von Wählern löst, erhält hohe Zustimmungswerte. Viele haben nicht den Eindruck, dass sich die Ampel um ihre Anliegen kümmert.

WO! Aktuell fehlt den etablierten Parteien eine Idee, wie man mit der AfD umgehen sollte. Immer wieder werden auch Rufe nach einem Verbotsverfahren laut. Würde man damit die Politikverdrossenheit vieler Menschen nicht noch anheizen und zugleich einen Märtyrerstatus schaffen?

Man muss über alle Instrumente unserer grundgesetzlichen wehrhaften Demokratie nachdenken. Gerade 75 Jahre nach Schaffung des Grundgesetzes. Insofern sollte immer neu bewertet werden, ob ein Verbotsverfahren angesagt ist. Wichtiger wäre, wie wir es in den Großdemonstrationen gegen die AfD erlebt haben: Die Mitte muss laut werden. Sie muss sich empathiefähig zeigen. Sie muss stärker integrieren. Sie muss Räume der Überschneidung stärken und auch üblen Argumenten nicht ausweichen. Die Demos sind ein wirkungsmächtiges Signalereignis.

WO! Ein probates Mittel im Umgang mit der AfD scheint vielen Politikern das schlichte Ignorieren der AfD und deren Themen zu sein. Spielt man mit dieser „Brandmauer“ aber nicht genau dieser Partei in der Rolle als Protestpartei in die Karten?

Die Dynamik der AfD ist schwer einzuschätzen. Aber viele Wähler fin- den sich auch dort, weil dort offenbar alles ausgesprochen wird, was sie selbst bedrückt und weil sie es auch verstehen, was dort propagiert wird. Diese Erfolgsformel – nicht den Inhalt – von Rassisten, Nationalisten, Faschisten sollte man strukturell verstehen: verständlich formulieren mit erhellenden Vereinfachungen – kein Hetz-Populismus. Wer keine Resonanz zu den Wählern aufbaut, kann weder auf Vertrauen noch auf Mobilisierbarkeit hoffen. Wähler fordern insofern, dass sich die Politiker um die Lösung von Problemen kümmern, die sie alle als am Wichtigsten einschätzen.

WO! Die jüngsten Ergebnisse bei den letzten Landtagswahlen und in der aktuellen Sonntagsfrage zeigen eine Sehnsucht der Wähler nach einer konservativen Politik. Nimmt man die Zahlen des aktuellen Politbarometers für die Bundestagswahl, ist allerdings eine Neuauflage der Großen Koalition am wahrscheinlichsten. Womit eine lupenreine konservative Politik eher unwahrscheinlich ist. Besteht dabei nicht die Gefahr, mit einer solchen Koalition wieder Wähler zu enttäuschen?

Wähler sehnen sich nach Eindeutigkeit, wählen aber in der Regel eher uneindeutig. Koalitionsregierungen sind bei uns sehr populär, weil dann für jeden etwas dabei ist. Große Koalitionen suggerieren auch dies: risikoavers, veränderungsscheu, absichernd, stabilitätsfanatisch und etatistisch. Eine konservative Wende, eine Art Gegenreformation hat in vielen europäischen Parteienwettbewerben eingesetzt, oft sogar mit einer Note von nostalgischem Nationalismus. In Deutschland wäre jede Regierung populär, die das Leistungsversprechen der Demokratie ein- löst: Probleme lösen. Und für die allermeisten steht die Frage der Migration, der Integration, der Geflüchteten im Zentrum. Könnte eine unions- geführte Groko hier schneller agieren? Das bleibt Spekulation, weil das Themenfeld extrem voraussetzungsvoll ist.

WO! Mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht meldete sich eine weitere Partei auf dem Wählermarkt. Hat diese Partei aus Ihrer Sicht das Potential, sich als weitere Protestpartei zu etablieren?

Wir haben keine Erfahrungen mit Parteien, die sich über Star-Kult und Talkshow-Mandaten auf dem Wählermarkt zeigen. Alle anderen Parteien haben sich um einen gesellschaftlichen Konflikt herum gegründet. Kurzfristig hat die BSW vermutlich bis Jahresende Wahlerfolge, wenn sie die Organisation von Landesverbänden hinbekommt. Linksautoritär will sie an den linken und rechten Rändern der politischen Mitte angreifen. Da ist Potential vorhanden. Aber Defizitparteien leben von Angebotslücken der anderen. Warum sollten die anderen Parteien der Mitte dabei nur zuschauen? Auch die werden ihre Angebote gegenüber den Wählern verändern.

 

WO! Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führte Dennis Dirigo