Seit 17 Jahren stellen sich die Nibelungen-Festspiele der Herausforderung, dem titelgebenden deutschen Sagen-Mythos immer wieder neue Facetten abzugewinnen, sieht man mal von den drei Ausflügen ab, in denen man sich anderen Geschichten widmete. Während Wedel immer wieder zwischen dem Hebbel Text und dem klassischen Nibelungenlied hin und her pendelte, ist der Anspruch unter Intendant Nico Hofmann, die altbekannte Geschichte mal mehr, mal weniger erfolgreich aus neuen Blickwinkeln zu erzählen und das möglichst mit wechselnden Autoren und Regisseuren. Für die diesjährige Aufführung engagierte man den angesagten Autoren Thomas Melle und die nicht minder angesagte Regisseurin Lilja Rupprecht.
IM SCHNELLDURCHGANG DURCH DAS NIBELUNGENLIED
Würden wir anders handeln, wenn wir die Folgen unseres Handelns kennen? Diese hypothetische Frage stellte sich Melle und wählte die Figur des jungen Ortlieb, Sohn von Kriemhild und König Etzel, als Dreh- und Angelpunkt seiner Erzählung. Von Lisa Hrdina in einer nervigen Mischung zwischen verzogenem Balg und hyperaktivem Kind gespielt, fordert der fünfjährige Junge – in einem mit Dinosauriern bemusterten Schlafanzug mit Fuchsschwanz am Allerwertesten – von seinen angehenden Mördern, sowie seiner Mutter, „Gibt mir einen neuen Anfang“ und fragt: „Was gibt euch das Recht, mich zu töten? Ihr euch selbst? Die Götter? Das Schicksal?“ Eine durchaus spannende Frage. Der namenlose Spielmann, Edgar Eckert, der mit seinem slapstickhaften Spiel wirkt, als sei er ein unfreiwilliger Wiedergänger von Peter Englert, nimmt sich des Knaben an, der optisch wahrscheinlich nicht von ungefähr an die junge Klimaaktivistin Greta Thunberg erinnert, und ermöglicht es, zusammen auf einem Zeitpfeil dreizehn Jahre in die Vergangenheit zu reisen – quasi „Zurück in die Zukunft“ in der Lesart der Nibelungen.
Ortliebs Ziel ist es, in die Handlung der Protagonisten eingreifen, um sein tödliches Schicksal abzuwenden. Schließlich möchte der Adelsspross noch ein wenig spielen und Spaß haben. Der Spielmann erklärt ihm allerdings, dass es ihm nicht möglich sei, in die Ereignisse einzugreifen. Eine Regel, die Autor Melle im weiteren Verlauf der Geschichte wiederholt über Bord warf. Zuvor folgte die Erzählung in einer Art Nummernrevue den wichtigsten Stationen der Nibelungengeschichte. Ein kurzer Einblick in das höfische Leben, das geprägt ist von Stillstand, Langeweile und der diffusen Bedrohung durch die Hunnen, und schon folgte die Ankunft Siegfrieds, der sich als arrogante Drag Queen mit einer Vorliebe für ein silbern funkelndes Drachenschuppenhemd, das auch dessen Unverwundbarkeit symbolisiert, inszenierte. Dazu durfte er Sätze sagen wie „Immer wenn ich mich drehte, drehte sich die Welt um mich!“ oder „Ich will die ganze Welt bespringen!“ Kurz darauf verliert dieser sich in neckischen Liebesspielen mit der gelangweilten Kriemhild („Ich fühle mich im Leerlauf der Sinne“), die eigenwillig, entrückt verstrahlt von Kathleen Morgeneyer gespielt wurde. Natürlich führt die Sippe das Schicksal nach Island, bzw. wie wir später erfahren Iserlohn an der Ruhr (!), weil der mit sich fremdelnde König Gunther unbedingt die mythenbehaftete Brünhild ehelichen soll, Hagen will es so! Da diese unbezwingbar ist, kommt der dauerfunkelnde Siegfried zum Einsatz, der von einem Chor begleitet wird. Besetzt mit Laien aus der Region stand der wahlweise für die Burgunder oder Siegfrieds Supermächte. Und weil Melle ein Mann des Wortes ist, findet sich Gunther mit Brünhild nicht in einem simplen Kräftemessen wieder, sondern in einem Duell der Worte. In der optischen Umsetzung gehörte dieser Moment sogar zu den besseren Momenten einer ersten Hälfte, die so gar nicht überwältigen wollte. Brünhild, mit raubtierhaftem Charme von Inga Busch gespielt, wird schließlich vom Chor niedergebrüllt. Da Melle sich allerdings des geschichtsträchtigen Erbes bewusst ist, ergänzt er kurz danach pflichtschuldigst noch schnell die eigentlichen Disziplinen. Da musste man jedoch aufmerksam zuhören, um dieses Detail zu hören. Kurz darauf ging es schon in die Pause.
SCHLANGEN, GIRAFFEN, FÜCHSE UND MEHR
Nach der Pause hatte mittlerweile die Nacht über Worms Einzug gehalten und eröffnete Regisseurin Rupprecht endlich die Möglichkeit, visuell ein paar Akzente zu setzen. Statisten trugen überdimensionierte beleuchtete Mitren, also Bischofsmützen, über die Tribünenränge Richtung Bühne und schwuppdiwupp wechselte die Szenerie in den Dom, also auf die Leinwand, wo angemessen pompös die Doppelhochzeit vollzogen wurde. Da die sparsam, aber effektiv eingesetzten Videoeffekte im letzten Jahr für viel Aufmerksamkeit sorgten, beschloss man wohl in diesem Jahr, frei nach dem Motto „mehr ist mehr“, den Zuschauer in einen Sinnesrausch zu versetzen. Die doppelte Liebesnacht, die mit der Vergewaltigung von Brünhild ihren schicksalsträchtigen Höhepunkt fand, wurde begleitet von virtuellen Schlangen, die in Endlosschleifen über den Paaren im Sextaumel schlängelten. Bemühte man sich zuvor noch um einen subtilen Erzählstil, schienen nun alle Dämme gebrochen zu sein. Zu den Schlangen, die unermüdlich über die Bühne und den Dom zogen, gesellten sich Ranken, die manch einen an Dornröschen erinnerten, Giraffen, ein Fuchs in Dauerschleife, großflächig projizierte Gesichter der Figuren und vieles mehr. Der Dom mochte zwar nicht erzittern, aber die Aufmerksamkeit des Zuschauers. In der Flut der Reizüberwältigung gerieten Melles Worte immer mehr in den Hintergrund. Die Erzählung rutschte zwischendurch in Ortliebs Traumwelt, um von dort wieder zu den doch unausweichlichen Gegebenheiten zu wechseln. So richtig lässt sich das nicht sagen. Hagen stirbt, Ortlieb lebt oder ist es immer noch die Traumwelt des Buben, in der die Geschichte endete? „Wie, wodurch und weshalb es so weit kommen konnte, war nicht wirklich zu begreifen an diesem Premierenabend“, fasste der SPIEGEL in seiner Kritik zusammen und brachte es damit auf den Punkt.
EIN BÜHNENBILD MIT FRAGEZEICHEN
„Es ist das modernste Stück der letzten Jahre“, erklärte Nico Hofmann im Rahmen der „Theaterbegegnungen“ zu dem Stück „Überwältigung“ und fügte hinzu: „Melle zeigt, was passiert, wenn die Politik nicht hinhört“. Es greife die Sorgen der Jugend auf, die sich gegen einen egozentrischen Politikbetrieb auflehne. Das mag alles sein, aber was nutzt dies, wenn sich die Brisanz des Stoffes beim Publikum nicht verfangen möchte und sich der Zuschauer mit zunehmender Spieldauer in seine eigene Gedankenwelt verabschiedet? Das Hauptproblem von „Überwältigung“ war, dass Inszenierung und Text oftmals keine Einheit ergaben. Über weite Strecken wirkte es so, als hätte die junge Regisseurin keinen visuellen Zugang zu Melles verkopftem Text gefunden. Das begann bereits mit dem Bühnenbild, das aussah, als hätte der Verhüllungskünstler Christo gemeinsame Sache mit den Wormser Wäschereien gemacht. Stofflaken um Stofflaken überzogen die Bühne sowie eine Holzkonstruktion, auf der die Darsteller immer wieder herumkraxeln mussten. Man merkte dem Spiel der Schauspieler leider an, dass sie hochkonzentriert immer wieder darauf achten mussten, ihre nächsten Schritte mit Bedacht zu wählen. Anne Ehrlich, die diese seltsame Bühnenwelt schuf, wusste offenbar auch nicht so genau, was das Bühnenbild aussagen sollte, und erklärte der Presse bei der Präsentation des Bühnenbildes, dass dieses ebenso für den Gletscher in Island, wie auch für Begriffe wie Verfremdung, Enthüllung usw. stehen könnte. Also im Grunde alles, was man gerade so hineininterpretieren möchte. Diese Seltsamkeit spiegelte sich auch in den Kostümen wieder, die einerseits zeitlos wirken sollten, andererseits vereinzelt doch wieder die Brücke zum historischen Ursprung der Geschichte schlugen. Besonders in der ersten Hälfte wirkte die Inszenierung so, als wolle sie geradezu zwanghaft jeden Anflug von Pathos und Überwältigung vermeiden. Das galt auch für die Musik. In einem Stilmix zwischen Ambient Sounds und zarten Klaviertupfern wurde das minimalistische Klangbild gelegentlich um Ausflüge in die Welt der Oper ergänzt.
UNTERFORDERTE SCHAUSPIELER UND VIELE GUTE ANSÄTZE
Ganz im Gegensatz zu der unterkühlten ersten Hälfte, zeigte sich der visuelle Overkill des zweiten Teils. Dem gegenüber stand wiederum Melles Text. Im Ansatz gut gedacht, schienen Melles intellektuelle Ambitionen in einem Kammerspiel besser aufgehoben zu sein als auf der großen Freiluftbühne. Melle legte zwar seinen Schauspielern immer wieder spannende Sätze in den Mund, doch die hatten wiederum ihre Mühe, diese mit Leben zu füllen. Zu theoretisch, akademisch klang der Ansatz, mit dem Melle versuchte, der Geschichte Leben einzuhauchen. Besonders betroffen war hierbei der eigentliche Star der Aufführung, Klaus Maria Brandauer. Als Zugpferd der diesjährigen Festspiele verpflichtet, entpuppte sich die zentrale Figur über weite Strecken als Nebenfigur. Der offenbar unterforderte Brandauer schwankte hierbei zwischen einem liebevollen Märchenonkel und einem Erklärbär, der am Ende dem Publikum auch mal erklären durfte, dass er eigentlich in Kriemhild verliebt war. Ansonsten spielte sich der Star souverän durch die unentschiedene Inszenierung, ohne dabei einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Das galt auch für die restlichen Mitglieder des Ensembles, die sich zwar redlich mühten, durch ihr Spiel dem Stück einen Hauch von Spannung zu vermitteln, aber auch sie konnten nichts dagegen ausrichten, dass Melle den Charakteren nur wenig Möglichkeit zur Entfaltung gab. Lediglich Moritz Grove bekam für seinen Gunther ein wenig psychologische Tiefe auf den Leib geschrieben. Dessen Gunther ist sich seiner Schwäche bewusst und erklärte in einer der wenigen wunderbar geschriebenen und inszenierten Szenen, dass er sich selbst fremd sei. Eine Anspielung auf den Promikult unserer Gesellschaft und wie diese darunter leiden („Ich fahre durch die Fußgängerzone von Worms, mache Selfies, gebe Autogramme, ich bin mir fremd, bin mir fremd!“). Auch Alexander Simon bekam einen spannenden Ansatz seiner Siegfried Interpretation in den Mund gelegt und würdigte dies mit entsprechend selbstsicherem Spiel, das zwar seinen Siegfried zutiefst unsympathisch erscheinen ließ, aber im Kontext der Geschichte funktionierte. Sich seiner Stärke und Strahlkraft bewusst, war es besonders der erste Auftritt des Drachentöters, der zu gefallen wusste. Leider blieb es bei solchen Ansätzen. Große Fragezeichen warf auch die Entscheidung der Regisseurin auf, zwei Frauenfiguren mit Männern zu besetzen. Ohne eine nachvollziehbare dramaturgische Begründung wirkte die Besetzung von Winfried Küppers als Frigga und Andreas Leupold als Königsmutter Ute wie ein zeitgemäßes Zugeständnis an das Aufbrechen von Rollenbildern. Während Leupold die meiste Zeit einfach nur in einem Stuhl saß und vor sich hin strickte, hatte Küppers zumindest spielerisch den dankbareren Part und durfte eindrücklich über Gewalt gegen Frauen monologisieren; dennoch wirkte seine Besetzung wie ein Fremdkörper. Letztlich wurde dem Stück zum Verhängnis, dass die vielen guten und oftmals klugen Ansätze in keinem Moment zu einer Einheit verschmolzen. Es ist unklar, ob sich Melle, der sich in seinen Romanen bis dato eher mit gewöhnlichen Alltagsproblemen und Figuren auseinandersetzt, für sein mythenbelastetes Personal schlicht und ergreifend nicht begeistern konnte oder ob das der umfangreichen Überarbeitung wenige Tage vor der Premiere geschuldet war
Fazit: Es ist Intendant Hofmann hoch anzurechnen, dass er nicht einfach eine massentaugliche Inszenierung auf die Bühne bringen, sondern eine „gehaltvolle Auseinandersetzung“ mit dem berühmten Sagenstoff präsentieren möchte. Die Kunst ist es hierbei, die Verbindung zwischen Anspruch und Unterhaltung zu schaffen. Melle und Rupprecht blieb es in diesem Jahr verwehrt, diesem gerecht zu werden. Melles Gedankenspielereien und die Fragen, die er aufwarf, hatten durchaus ihren Reiz, hätten aber einer entschlossenen Inszenierung bedurft, die den Zuschauer in die Welt hineinzieht und nicht einfach verdutzt zurücklässt. Auch wenn der Titel „Überwältigung“ sich wohl mehr auf die inneren Konflikte der handelnden Figuren bezog, muss sich ein Stück mit einem solch markigen Titel auch ein wenig daran messen lassen. Insofern blieb die „Überwältigung“, die man 2018 bei „Siegfrieds Erben“ erleben konnte, in diesem Jahr aus. Wo Vontobel auf eine fast schon kinotaugliche Breitwandinszenierung setzte, mäanderte Rupprecht zwischen Kammerspiel und einer mit pseudopsychologischen Mätzchen aufgeladenen Inszenierung.