Als Michael Kissel Ende Juni nach 16 Jahren Amtszeit als Oberbürgermeister der Stadt Worms abtrat, geschah das gewiss nicht freiwillig. Aber Kissels Ambitionen auf eine dritte Amtszeit wurden am 4. und 18.11.2018 durch ein eindeutiges Wählervotum zerstört, das nur einen Schluss zuließ: Die Wähler hatten ihren langjährigen OB satt. Nimmt man das Ergebnis dieser OB-Wahl als Zeugnis der Wähler für Kissels Amtszeit, fiele dieses verheerend aus. Auch wenn sich Kissel damit einen würdigen Abschied selbst versaut hat, wird man damit seinen Verdiensten nicht gerecht. Vielleicht wird man genau diesen Idealtypus eines hemdsärmlichen Politikers irgendwann vermissen. Wir sagen deshalb ein letztes Mal: „Danke Kissel!“

Wenn man den scheidenden OB Michael Kissel fragen würde, wie für ihn der Idealtypus eines Oberbürgermeisters aussieht, würde er vermutlich auf sich selbst zeigen. Zweifelsohne war er ein überzeugter Botschafter seiner Heimatstadt, der keine Gelegenheit ausließ, „sein Worms“ in der Fremde anzupreisen. Kissel war redegewandt (das war am Anfang noch nicht so), schlagfertig (das war er schon immer) und wenn Kissel gut drauf war, konnte er sogar richtig lustig sein (ohne dabei Witze auf Kosten Anderer zu machen). Auch mangelnden Fleiß konnte man ihm wahrlich noch nie vorwerfen, eher verfügte er über eine Portion zu viel Ehrgeiz. Kissel tanzte auf jeder Hochzeit, war bei allen kulturellen Anlässen zu finden. Vielen wurde diese Omnipräsenz im Laufe der Zeit irgendwann zuviel. Und wenn Kissel dann noch davon sprach, dass seine Stadt Vorreiter in der Metropolregion Rhein-Neckar und auf dem besten Weg zu Europas Kulturhauptstadt sei, da lächelten echte Kulturkenner nur milde. Intern war Kissel jemand, der gerne alles an sich gerissen hat. „Ich steh an der Spitze der
Verwaltung, also muss ich auch meinen Kopf hinhalten!“ war ein gern gehörter Satz im Wormser Rathaus. Gute Chefs erkennt man gemeinhin daran, dass sie ihre vielfältigen Aufgaben zu delegieren wissen. Nicht so bei Kissel, der aus dem Amt des Oberbürgermeisters zunehmend eine „One Man Show“ machte. Alles lief über den Schreibtisch von Kissel, der sogar entschied, welche Zeitung zuerst interne Informationen erhielt. Das setzte sich im Stadtrat fort, wo er, geprägt vom Habitus der Macht, seine Entscheidungen nicht mit jedem Hinterbänkler diskutieren wollte. Da musste des Öfteren das von Altkanzler Gerhard Schröder sattsam bekannte „Basta!“ herhalten, wenn Kritiker nicht verstummen wollten. Das brachte ihm schon bald den Spitznamen „Sonnenkönig“ ein, und man hatte das Gefühl, dass Kissel dieser Name sogar gefiel. „Als OB muss man manchmal Entscheidungen treffen, die nicht jedem gefallen!“ war ein Lieblingssatz Kissels. Tatsächlich ging er Konflikten nie aus dem Weg, scheute keine Diskussion und ging auch in die „Höhle der Löwen“, wenn er wusste, dass die meisten Leute im Saal gegen ihn sein würden. Als die Leute aber merkten, dass Kissel gar nicht gekommen war, um ergebnisoffen zu diskutieren, sondern nur seine bereits feststehende Entscheidung begründen wollte, nahmen ihm das viele übel. Wie die OB-Wahl gezeigt hat, war Kissel im Laufe seiner Amtszeit anscheinend ziemlich vielen Wählern irgendwann mal auf den Fuß getreten.

Kissel, der Kultur-OB
Obwohl die beiden kulturellen Leuchttürme der Stadt, Nibelungen-Festspiele und Jazz & Joy, noch aus der Zeit vor Kissel stammten, wird man den langjährigen OB hauptsächlich mit dem Thema Kultur in Verbindung bringen. Wenn sich Worms besonders für seine Gäste raus geputzt hatte, zum Rheinland-Pfalz-Tag, beim Europäischen Kultursommer oder zum Jubiläum „1000 Jahre Dom“, da war das Stadtoberhaupt in Hochform. Tatsächlich kann man Kissel attestieren, dass ihm im Kulturbereich die nachhaltigsten positiven Weichenstellungen gelangen. Als der langjährige Intendant der Nibelungen-Festspiele, Dieter Wedel, für 2014 seinen Rückzug ankündigte, da zauberte Kissel ein hochkarätiges Ass aus dem Ärmel, mit dem nicht einmal Wedel selbst gerechnet hätte. Mit der Verpflichtung von Nico Hofmann, dem deutschen Filmproduzenten schlechthin, landete Kissel einen unerwarteten Coup. Wie schon Wedel zuvor, berichtete auch Hofmann von dem Verhandlungsgeschick und der Hartnäckigkeit des Wormser Oberbürgermeisters. Mittlerweile gefällt es dem gebürtigen Heidelberger so gut in Worms, dass er seinen Vertrag vorzeitig bis 2022 verlängert hat. Mit der Installierung von Volker Gallé als Kulturkoordinator der Stadt Worms hat Kissel ebenfalls ein glückliches Händchen bewiesen und mit dessen jungen Nachfolger David Maier bereits die Weichen für die Zukunft gestellt. Das größte Bauprojekt im Kulturbereich war „Das Wormser“, das bereits von den Baukosten her (knapp 50 Mio. Euro) heftig in der Kritik stand und dessen Konzeption von Anfang an ein angeschlossenes Hotel auf dem heutigen EWR-Parkplatz vorsah. 2011 feierte man Eröffnung des neuen Kultur- und Tagungszentrums; heute, acht Jahre später, fehlt noch immer besagtes Hotel zur Ankurblung des Tagungsgeschäftes, auch wenn es mit der Ibis-Kette wohl noch einen Interessenten gibt. Zweifelsohne ist „Das Wormser“ eine kulturelle Bereicherung für Worms, aber bleibt eben nach wie vor ein unvollendetes Erfolgsprodukt, das seit der Eröffnung jährlich millionenschwer bezuschusst werden muss. Überhaupt war ein fehlendes Hotel ein großes Manko der Amtszeit Kissels. Obwohl er immer wieder die Wichtigkeit des Themas „Tourismus“ betont hatte, ist es ihm in 16 Jahren nicht gelungen, eine Hotelkette für den Standort Worms zu begeistern. Auch sein Wahlversprechen im ersten OB-Wahlkampf 2003, für ein Jugendkulturzentrum zu sorgen, hat er nie eingelöst. Deshalb wird Kissel die Kritik, er habe Vieles angestoßen, Einiges versprochen, aber die meisten Sachen nicht zu Ende gebracht, nur schwer entkräften können.

Kissels Denkmäler
Worms fit zu machen für die Zukunft, sei seine Hauptaufgabe gewesen, ließ Kissel immer wieder verlauten. Der Bau der zweiten Rheinbrücke, mit der Erneuerung der Zufahrten rund um den Festplatz, war sicherlich das bedeutendste Bauwerk unter Kissels Ägide. Die jahrzehntelange Vorarbeit hatte aber bereits sein Vorgänger Gernot Fischer geleistet. Aus den Konversionsbeständen der US-Army wurde das Wohngebiet „Liebenauer Feld“ mit einem angeschlossenen Ärztehaus. Auch der Wormser Einkaufspark (WEP) in der Schönauer Straße entstand unter Kissel, dagegen kam das von ihm präferierte Gewerbegebiet „Hoher Stein“ in Worms-Heppenheim nicht zustande, was Kissel selbst als die größte Niederlage seiner Amtszeit bezeichnet. Lange Zeit hatte er, gegen alle Widerstände aus der Bevölkerung, für das Projekt gekämpft, um dann wegen eines Feldhamsters die Segel streichen zu müssen. Trotz jahrelanger Diskussionen letztendlich gebaut wurde dafür das „Haus am Dom“ und entwickelte sich zu einem Streitthema, das Kissel massiv unterschätzt hat. Dass er sich frühzeitig für den Bau positioniert und den Willen von 16.000 Wormsern, die dagegen waren, einfach ignoriert hat, dürfte ihn einige Wählerstimmen gekostet haben. Überhaupt schien Kissel mit zunehmender Dauer seiner Amtszeit immer mehr den Kontakt zum einfachen Bürger zu verlieren. Den interessierten alltägliche Probleme wie kaputte Straßen, marode Schulen oder fehlende Kindergartenplätze. Da lastete man dem OB auch den vermeintlichen Niedergang der Innenstadt sowie einen gefühlten Anstieg der Kriminalität an, obwohl beide Probleme wahrlich nicht nur bei uns auftreten. In den Sozialen Netzwerken war „Danke Kissel!“ als geflügeltes Wort für Missstände in Worms längst Gang und Gebe.

Die Abwahl
Als Kissel Ende 2017 eigenmächtig verkündete, dass er für eine weitere Amtszeit kandidieren würde, da schlug ihm bei Facebook bereits ein erster Shitstorm entgegen. Eine Mischung aus Eitelkeit und Stolz ließen Kissel die Warnsignale überhören. Zwar gab es auch aus den Reihen der SPD Bedenken, ob es Kissel noch einmal schaffen würde, aber in alter Nibelungentreue hielt man dann doch zu seinem langjährigen OB, der sich zudem sehr siegessicher gab. Wenn man ihn im Vorfeld der OB-Wahl gefragt hat, warum er für den Job geeignet sei, antworte Kissel im Brustton der Überzeugung: „Weil ich’s kann.“ Wenige Tage vor der Wahl erklärte Kissel gegenüber der WZ, dass er den Wahlhelfern am liebsten eine Stichwahl ersparen und im ersten Durchgang gewinnen möchte. Getreu dem Motto „Hochmut kommt vor dem Fall“ musste er am Wahlabend sogar darum bangen, überhaupt als Zweiter in der Stichwahl zu landen. Am Abend des 4.11.18 wirkte Kissel, der gegenüber der letzten OB-Wahl vor acht Jahren mal eben 9.000 Wähler verloren hatte, ziemlich angeschlagen und zeigte sich geläutert, um dann sofort wieder in den Wahlkampfmodus zu schalten. Aber das Votum der Stichwahl zwei Wochen später war noch eindeutiger. Für Kissel entschieden sich nur 26,9%, sein Nachfolger Adolf Kessel landete bei stolzen 73,1%. Die Zustimmung für seine Politik war längst nicht mehr so groß, wie Kissel gedacht hatte. Das Denkmal Kissel hatte einen deutlichen Riss erhalten. Anstatt ihm noch eine dritte Amtszeit zu gewähren, beförderten ihn die Wähler in die Zwangsrente. Gleichwohl ist es schwer vorstellbar, dass Rentner Kissel zukünftig Radieschen oder Tomaten im heimischen Gärtchen züchtet und brav den Haushalt im beschaulichen Monsheim hütet. Irgendein politischer Posten sollte doch für einen fitten 64-Jährigen noch herausspringen. Bei was auch immer: Alles Gute für Ihren restlichen Lebensabschnitt, Herr Oberbürgermeister a.D.!!