Eigentlich könnte an dieser Stelle ein persönliches Gespräch mit dem amtierenden Oberbürgermeister Michael Kissel stehen, in dem er unseren Lesern erklärt, warum es richtig ist, ihn am 4. November wieder zu wählen. Dies wird aber nicht passieren. Nicht etwa, weil wir das nicht wollen, sondern weil der OB uns bereits im letzten Jahr erklärte, mit unserem Magazin kein Interview führen zu wollen.

Tatsächlich war im Frühjahr 2017 ein ausführliches Interview mit Michael Kissel vorgesehen und bereits terminiert. Selbstverständlich hatte er, wie bei solchen Interviews üblich, von unserer Seite das Recht zugestanden bekommen, den finalen Text nochmals zur Autorisierung gegenzulesen. Im letzten Moment kam für uns die überraschende Absage, mit der Begründung, dass er nach eingehender Überlegung zu dem Schluss kam, es wie der mittlerweile verstorbene Altkanzler Helmut Kohl halten zu wollen, der einst beschloss, nicht mehr mit der Bild-Zeitung zu sprechen. Als die Absage Kissels kam, lag allerdings auch eine WO! Ausgabe hinter uns, die es einem SPD-Politiker sicherlich nicht einfach machte, sich mit einem kritischen Medium auseinanderzusetzen. Zuvor berichteten wir in unserer wie üblich ehrlichen Art über den Fall Marcus Held und das Dossier des geheimnisvollen Anonymous, sowie den Besuch des damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz in Worms. Offiziell begründete der Oberbürgermeister die kurzfristige Absage allerdings mit persönlichen Vorbehalten. Es mag sein, dass wir uns nicht immer fair gegenüber dem Oberbürgermeister verhalten haben. Allerdings muss man auch betonen, dass ein Politiker in dieser Hierarchieebene eine Person des öffentlichen Lebens ist, was die Konsequenz nach sich ziehen kann, dass auch private Themen öffentlich verhandelt werden. Ein unbestrittenes Wesensmerkmal der Demokratie ist nun mal das hohe Gut der Pressefreiheit. Eine Aufgabe eines demokratisch gewählten Politikers, der von allen Bürgern finanziert wird, ist es wiederum, auch mit unbequemen Medien zu sprechen, solange sie nicht extremistischen Ecken zuzuordnen sind; ein Umstand, der, bei aller Kritik, auf uns sicherlich nicht zutrifft. Natürlich ändert das fehlende Gespräch nichts daran, dass wir trotzdem einen kritischen Blick auf die vergangenen 15 Jahre seiner Amtsführung werfen.

Freude am Amt
Gerne hätten wir ihm natürlich die Frage gestellt, warum es für die Wormser wichtig und richtig ist, ihn am 4. November für weitere acht Jahre zu wählen. Eine Antwort auf diese Frage fanden wir indes im Wormser Nibelungen Kurier, einer Anzeigenzeitung, die immer wieder eine große Nähe zu sozialdemokratischen Politikern sucht, weswegen es auch nicht verwunderte, als der amtierende OB gleich zur „Marke Michael Kissel“ hochgejazzt wurde. Seinen Antrieb, das Amt weiterhin begleiten zu wollen, begründete er u.a. mit seiner großen Freude an diesem Amt. Das ist sicherlich beachtlich, denn eins dürfte gewiss sein: Oberbürgermeister ist kein klassischer 8-Stunden-Job und die Ärgernisse, mit denen man sich auseinandersetzen muss, sind mannigfaltig. Dass man als OB-Kandidat für den Job „brennen“ muss, ist insofern eine logische Grundvoraussetzung. Und hier dürften wir mit dem OB einer Meinung sein und ihm diese Eigenschaft neidlos zugestehen.

Haushaltswahrheit und -klarheit
Dennoch sprechen auch einige Umstände eine nicht so eindeutige Sprache oder sind vielmehr kritikwürdig. Dazu gehört z.B. die „konsens-orientierte Zusammenarbeit im Wormser Stadtrat“, wie er sie nennt. Es gibt nicht wenige Stadtratsmitglieder, die seit Jahren die Neigung zu einer gewissen Intransparenz des gelernten Verwaltungsfachmannes kritisieren. Besonders zum Tragen kommt dies immer wieder in den jährlichen Diskussionen rund um den Haushalt der Stadt Worms. Wie bekannt sein dürfte, ist die Gesamtverschuldung der Stadt Worms enorm (rund 500 Millionen Euro), weshalb die ADD (Aufsichts- und Dienstleistungsbehörde Rheinland-Pfalz) seit längerem mit einem strengen Blick auf die Nibelungenstadt schaut. Immer wieder fordern Mitglieder des Stadtrates gegenüber Michael Kissel eine Einhaltung der sogenannten Haushaltswahrheit und –klarheit. Was es mit diesen Begriffen auf sich hat, möchten wir kurz am Beispiel der „sensationellen Entwicklung beim städtischen Haushalt“ (Schlagzeile Nibelungen Kurier) erläutern. Vor knapp drei Wochen ließ der Oberbürgermeister verkünden, dass der Jahresfehlbetrag überraschenderweise von 25 Millionen auf 3,5 Millionen Euro geschrumpft sei. Dies sei hauptsächlich sinkenden Sozialausgaben zu verdanken. Warum, wieso, weshalb, sucht man in dem Text vergebens. Beschäftigt man sich intensiver mit diesem Haushaltswunder, stößt man in städtischen Unterlagen auf die Begründung des Bereiches V Soziales, Jugend und Wohnen. Dort werden vor allem drei Entwicklungen aufgeführt. Zum einen ein Rückgang unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, beziehungsweise Vollzug der Volljährigkeit und damit der mögliche Wegfall von Jugendhilfemaßnahmen, Änderung von Gesetzestexten hinsichtlich der Pflegeversicherung und Zuwendungen des Bundes. Schnell stellte sich heraus, dass die Sensation eigentlich keine echte ist und möglicherweise sogar planbar war.

Kritik der ADD
In einem Dossier der ADD, das unserer Redaktion vorliegt, wirft die Behörde dem Oberbürgermeister seit 2009 eklatante Verstöße gegen diese Haushaltswahrhaftigkeit vor.

„Der Grundsatz der Haushaltswahrheit fordert, die im betroffenen Haushaltsjahr voraussichtlich eingehenden Erträge und (…) Aufwendungen mit größtmöglicher Genauigkeit zu ermitteln oder zu schätzen.“

Das heißt, im Wormser Haushalt fällt immer wieder auf, dass Zahlen genannt werden, die offenbar jeglicher Grundlage entbehren. Der Sachbearbeiter weist darauf hin, dass durch diese unkonkreten Zahlen eine genaue Prüfung nahezu unmöglich sei und erhebt Bedenken wegen Rechtsverletzungen. Ebenso kritikwürdig sieht er die Gliederung des Haushaltes in insgesamt 54 Teilhaushalte. In seinem Schreiben an den OB schwingt der Vorwurf der bewussten Verschleierung mit, da die Aufteilung nicht nachvollziehbar und eine schlüssige Prüfung dadurch ebenfalls nahezu unmöglich sei. Einen weiteren Rechtsverstoß sieht der Autor darin, dass die Stadt seit längerem bei der Abgabe ihrer amtlichen Jahresabschlüsse satte vier Jahre im Rückstand ist. Zum Vergleich, das wäre so, als wenn ein DAX-Unternehmen den Aktionären seine Jahresbilanz erst vier Jahre später vorlegt. Nun könnte man im ersten Moment sagen: „Ist doch Okay, wenn letztlich der Haushalt besser ausfällt als angekündigt.“ Wenn es aber wissentlich geschieht, ist das aber auch eine Irreführung des Bürgers und Steuerzahlers. Vor allem hebelt es ein stückweit die Handlungsfähigkeit des Stadtrates aus, da dieser den wahren Zahlen immer wieder hinterherhinkt.

Die Marke Kissel
In dem Text des NK, der sich mit der „Marke Kissel“ beschäftigt, wird darauf verwiesen, dass er die Verwaltung kennt und um die politischen Zusammenhänge weiß. Gerade deswegen muss man dem Oberbürgermeister unterstellen, dass er diese Fehlkalkulationen bewusst in Kauf nimmt, um einen transparenten Haushalt zu verhindern. Die ADD erklärt in dem Schreiben mehrfach, dass eine vorsichtige Planung durchaus möglich und nachvollziehbar sei, aber eben nicht in diesem Maße. Vielleicht war es eine der größten Leistungen Michael Kissels, die Stadtverwaltung zu reformieren und einst den „Konzern Stadt“ auszurufen. Die Gründung von Beteiligungsgesellschaften mag organisatorisch und in einigen Fällen steuerlich sinnvoll gewesen sein, führte aber auch dazu, dass die zahlreichen Geldströme für den Otto-Normalverbraucher nicht mehr nachvollziehbar sind. Vielleicht ist es Zeit für einen weniger verwaltungsbezogenen Oberbürgermeister, der es tatsächlich ernst meint mit Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit. Den Wormsern wäre zumindest ein wenig mehr Klarheit zu wünschen, denn in dem Schreiben droht die ADD klar mit ihrem Recht, Worms unter Verwaltung der Kommunalaufsicht zu stellen. Mozart sagte einst bei seinen Besuch in unserer Stadt: „In Worms da war’n wir lustig!“ Das könnte irgendwann ein Zitat mit Blick auf die goldenen Zeiten sein, als wir noch zwei Schwimmbäder, jede Menge teure Feste und prunkvolle Parkhäuser hatten, denn all das könnte dann möglicherweise der Vergangenheit angehören.