WO! Kritik zur Uraufführung „Luther“ bei den Nibelungen-Festspielen

Lange Zeit war unklar, wie sich der gefeierte Schweizer Autor Lukas Bärfuss dem streitbaren, wie auch umstrittenen Augustinermönch Martin Luther nähern würde. Wie üblich bei den Festspielen war bis zum Zeitpunkt der Premiere nur wenig über den Inhalt bekannt. Lukas Bärfuss ließ noch im Januar verlauten, dass er sich dem komplexen Charakter Luthers und vor allem dessen Motivation widmen würde.

Ein goldenes Bühnenbild mit wenig Pomp
Anfang Juni war dann klar, Martin Luther selbst würde in dem Stück gar keine Rolle spielen, stattdessen beschäftige man sich mit den Auswirkungen von Luthers Handeln auf seine Mitmenschen. Diese Mitmenschen waren in den zweieinhalb Stunden Spielzeit vor allem ein psychopathischer Kurfürst, eine unglückliche Prinzessin, ein längst von dieser Welt entrückter Papst sowie ein geschäftstüchtiger Reliquiensammler aus Sachsen. Zunächst war es aber die Bühne mit ihren Aufbauten, die still ergeben vor den Mauern des in Abendlicht getauchten Wormser Doms lag und den Zuschauer helfen sollte, sich in die Zeit irgendwann im Jahre 1520 hineinzuversetzen. Fast bescheiden wirkte das von der Ungarin LILI IZSAK entworfene Bühnenbild, wäre da nicht die Tatsache, dass dieses Großteils mit Gold überzogen war, was wohl spätmittelalterliche Dekadenz verzogener Adliger ausdrücken sollte. Dominiert wird die Bühne von zwei Stahlgerüsten, in deren obersten Etagen links die unglückliche Prinzessin und rechts der psychopathische Kurfürst lebten. Sozusagen das Motto „die da oben“ greifbar gemacht. Des Weiteren gab es einen Kiosk zu bestaunen, in dem allerhand Reliquien, aber auch Informationen gehandelt wurden. Einsam in der Mitte des Bühnenbildes lehnte wiederum ein Coca-Cola- Automat an der Nordseite des Doms. In unmittelbarer Nachbarschaft eine Leinwand in Form eines Smartphone Displays. Der erste Gedanke, der einem beim Betrachten dieser Ausgestaltung durch den Kopf ging: Man hatte schon eindrucksvollere Bühnenbilder gesehen. Doch der Gedanke währte nicht lange, denn schon kurz darauf betraten die Schauspieler die Bühne und das Spiel konnte beginnen.

Nibelungen Wahnsinn und ein bisschen Luther
Das goldgefärbte Stahlgerüst symbolisierte eine Burg irgendwo in Brandenburg, manchmal auch in Stendal/Sachsen-Anhalt. Dort residieren 1520 Joachim I. (Jan Thümer) und sein jüngerer Bruder Albrecht (JÜRGEN TARRACH). Das Leben scheint dennoch nicht einfach für Beide zu sein. Im Land wütet die Pest, Raubritter terrorisieren die Menschen und vor allem kostet der luxuriöse Lebensstil der Brüder zu viel Geld. Die Einnahmemöglichkeiten sind wiederum begrenzt. Eine davon ist der Ablasshandel, weshalb Joachim seinen Bruder Albrecht drängt, das Amt eines Bischofs zu übernehmen. Eine weitere Möglichkeit sieht der unberechenbare Kurfürst in der Hochzeit mit der dänischen Königstochter Elisabeth (JULISCHKA EICHEL). Doch die weigert sich, so lange Joachim nicht ihre Mutter aus einer Belagerung in Schweden befreit. Der denkt gar nicht daran und macht sich Elisabeth mittels Einsatz männlicher Härte gefügig. Spätestens in diesem Moment fühlte man sich an Dieter Wedel und die Nibelungen erinnert und fragte sich, was das alles mit Luther zu tun hat, außer dass sich Joachim ein paar Gulden mit dem Ablasshandel erschleicht? Das muss auch LUKAS BÄRFUSS so gegangen sein. Fast beiläufig wurde in einem Dialog schließlich erwähnt, dass in Wittenberg ein kleiner Mönch unablässig gegen das kirchliche Vergebungsgeschäft wettert. Doch zunächst widmet sich der Kurfürst mit weiter anhaltendem Größenwahn seinen weltlichen Problemen, sprich Menschen köpfen oder vergewaltigen.

Ein Elefant namens Hanno
In Rom ist indes das Leben weniger aufregend. Der Papst Leo X. (SUNNYI MELLES) lässt sich in seinem umweltfreundlichen Papamobil per Muskelkraft durch die Gegend fahren und will eigentlich so gar nichts von den heraufziehenden Problemen in Deutschland hören. Tatsächlich galt der Medici Erbe als theologisch eher uninteressiert, stattdessen widmete er sich lieber seinem Elefanten Hanno, der ganz nebenbei so was wie der heimliche Star dieser Aufführung war. Hanno hat zwar in gänzlicher Körperpracht nur einen Miniauftritt auf der Leinwand, äh dem Smartphone, doch sein Rüssel, der agil aus einem ebenfalls güldenen Container ragt, reichte, um den ganzen Wahnsinn mächtiger Menschen, die schon längst den Anschluss an alles Irdische verloren haben, greifbar zu machen. Hingebungsvoll widmet sich der Papst den Exkrementen von Hanno, um mehr über dessen Gesundheitszustand zu erfahren oder füttert ihn mit Gugelhupf. Das Luther-Problem delegiert er an seinen Legaten Cajetan (MATTHIAS NEUKIRCH). Zurück in Brandenburg verfällt die mittlerweile verheiratete Elisabeth zunehmend dem Wahnsinn, was auch Friedrich dem Weisen (BARBARA COLCERIU), ihrem Onkel, nicht entgeht. Der schickt einen Arzt namens Ratzenberger (KONSTANTIN BÜHLER) zu seiner Nichte. Der gibt ihr allerdings eine Medizin, mit der sie so gar nicht gerechnet hat, nämlich das Wort Martin Luthers. Im Handumdrehen ist sie dann auch schon überzeugte Lutheranerin und lässt sich fortan von ihrem Mann nichts mehr sagen.

Joachim wittert wiederum seine große Chance, als Kaiser Maximilian das Zeitliche segnet und bewirbt sich um das höchste Amt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen. Trotz guten Kontakten und Intrigen wird am Ende Karl der V. gewählt. Angelegt als turbulente Castingshow im Modus eines Tetris Spiels blitzte in diesem Moment ein grotesker inszenatorischer Spieltrieb auf, den man in den vorangegangenen zwei Stunden oftmals vermisste. Die Wahl ist kaum vorbei, da näherte sich das Stück plötzlich in schnellen Schritten auch schon seinem Ende. Die Ränkespiele sind beendet, die Ehe kaputt, Hanno gestorben und Luther tritt vor den Reichstag. Das geschieht allerdings nur mit Hilfe einer Erzählstimme, die den Zuschauer und den Papst im Schnelldurchlauf über das historische Geschehen in Worms in Kenntnis setzte. Am Ende verlässt Elisabeth mit den bedeutungsvollen Worten „Hier gehe ich, ich kann nicht anders!“ ihren frustrierten Ehemann, der vor den Trümmern seiner Existenz steht. Der Zuschauer verließ wiederum die Festspielarena erschlagen und irritiert, ob des durchaus turbulenten, aber oftmals eigenwilligen Treibens.

Unentschlossene Regie trifft auf unentschlossenes Buch
Nicht weniger irritierend wirkte der Umstand, dass die titelgebende Person selbst eine eher nebensächliche Rolle spielte. Viel wurde in dem Stück über die Wirkmächtigkeit Luthers gesprochen, allerdings machte das Stück das selten greifbar. Es scheint, als sei Bärfuss mehr an anderen Themen interessiert gewesen. So würde das Stück auch als garstiger Kommentar zu toxischer Männlichkeit funktionieren. Ähnlich wie bei den Nibelungen steht auch hier eine Frau im Mittelpunkt, der von Männern übel mitgespielt wird. Es ist zwar historisch verbürgt, dass Elisabeth eine der ersten bekennenden Lutheranerinnen war, doch als Beispiel wie die Flamme der Reformation um sich griff, taugte sie nur bedingt. Suchend nach Halt ist es in der Lesart des Stücks eigentlich egal, ob Ratzenberger ihr nun von Luther oder vielleicht Buddha erzählt hätte. JAN THÜMER gab sich wiederum redlich Mühe, den tobenden Berserker auf der Bühne zu mimen und empfahl sich dabei als bestens geeignet für eine Rolle im Reigen der schrecklich netten Burgunder Familie. Schauspielerisch waren es insbesondere zwei Damen, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zogen. Es ist bezeichnend, dass diese ausgerechnet in männlichen Rollen ihre maskulinen Bühnenkollegen an die Domfassade spielten. Während SUNNYI MELLES mit entrücktem Spiel einen wunderlichen Charakter zum Leben erweckte, glänzte die kleine Schauspielerin BARBARA CORESCU mit ausdrucksvoller Stimme und eindrucksvoller Bühnenpräsenz in der Rolle des Kurfürsten Friedrich. Die Inszenierung schwankte indes tonal ähnlich unentschlossen wie die Vorlage von Bärfuss nicht weiß, was sie lieber erzählen mochte. Mal setzte Regisseurin ILDIKO GASPAR auf groteske Überzeichnung, ließ Menschen in Blut baden, abgeschnittene Schädel tragen oder den jungen Kurfürsten sein gerade erst Erbrochenes trinken, mal waren es dann wieder Slapstickmomente, die das Szenario beherrschten und in denen auch mal die Protagonisten auch mal als Spielfiguren über die Bühne tänzeln müssten.

Fazit: Obwohl das Tempo der Geschichte hoch war, schlichen sich dennoch immer wieder Längen ein, in denen man sich als Zuschauer gerne von den eifrig umherfliegenden Mauerseglern ablenken ließ. Was bleibt sind die Erinnerung an Hanno im Wormser Dom und dass ein Rüssel mehr als tausend Worte sagen kann, sowie der Ausblick auf das nächste Jahr, in dem die Festspiele wieder pflichtschuldigst zu den Nibelungen zurückkehren.