Dass an Nikolaus 2019 Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zur neuen Doppelspitze der SPD gewählt wurden, darf man getrost als Überraschung werten, waren doch beide zuvor eher selten öffentlich in Erscheinung getreten und stehen für einen stark linksgerichteten neuen Kurs der Partei.

Franz Müntefering, Kurt Beck, Matthias Platzeck, Sigmar Gabriel, Martin Schulz und Andrea Nahles. Sie alle durften sich seit 2005, nach dem Ende der Ära Schröder, als Parteichefs probieren. Den Absturz der SPD zu einer Partei, die bei Umfragen an der 10-Prozent-Marke kratzt, konnten sie freilich alle nicht verhindern. Denn die SPD ist seit Schröder eine tief gespaltene Partei, die sich vor allem an zwei Themen reibt – der Großen Koalition und Hartz IV. Da sind zum einen die GroKo-Befürworter, die um das Ende ihrer Pfründe fürchten und lieber in der Regierungsverantwortung bleiben wollen, anstatt als drittstärkste Oppositionspartei in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Denen gegenüber stehen die GroKo-Gegner, die davon überzeugt sind, dass die SPD als Juniorpartner der CDU zukünftig noch mehr Wählerstimmen verlieren wird. Was Hartz IV angeht, gibt es wohl kaum ein Gesetz, das die Partei mehr gespalten hat und das weite Teile der Basis ablehnen. Schließlich hat die einst so stolze Volkspartei seitdem mehr als 60% ihrer Wähler verloren, ist aber mit knapp 430.000 Mitgliedern immer noch die mitgliederstärkste Partei Deutschlands. Dass die nun mit Esken und Walter-Borjans ein neues Führungsduo gewählt haben, zeigt die Zerrissenheit der Partei, denn immerhin 45 Prozent konnten sich mit dem eher neoliberalen Kurs von Olaf Scholz und Klara Geywitz anfreunden. Man könnte auch sagen, die Basis hat sich gegen die Minister und die Bundestagsfraktion durchgesetzt. Die neue Doppelspitze will der Partei, ähnlich wie die Jungsozialisten um Kevin Kühnert, einen neuen Linkskurs verordnen, mit dem man verlorene Wähler zurückgewinnen will. Reichensteuer, ein Mindestlohn von 12 Euro oder mehr Investitionen in die Bildung sind Schlagworte, die wie Musik in den Ohren ihrer Mitglieder klingen. Zwar werden auch diese Forderungen deutsche Rentner nicht davor bewahren, im Alter Pfandflaschen sammeln zu müssen, aber sind doch immerhin mal ein Anfang in Richtung „alte SPD“.

Einer, der diesen neuen Kurs der Partei nicht mehr länger mittragen will, ist der in Worms nicht unbekannte Unternehmer Harald Christ, der in der Vergangenheit als Gönner der Wormatia oder der Nibelungen Festspiele aufgetreten war. Christ war Gründungsmitglied des Wirtschaftsforums der SPD e.V. und ist dort aktuell Vizepräsident, im Juli 2018 ernannte ihn der SPD-Parteivorstand zum Mittelstandsbeauftragten. Im September gab Christ seinen Rücktritt von diesem Posten zum Dezember 2019 bekannt. Nach der Wahl der neuen Doppelspitze sorgte Christ nun zum Jahresende 2019 für den nächsten Paukenschlag: „Leider hat die Partei der ich so vieles verdanke, programmatisch aber auch personell eine sehr stark links abdriftende Politik gewählt. Als Volkspartei muss die SPD natürlich linke Positionen vertreten, wenn es um Arbeitnehmer*Innen geht und die sozialen Belange einer Gesellschaft. Aber ich glaube, dass Mittelstand und Wirtschaft die andere Seite derselben Medaille sind. Wenn man Verteilungsgerechtigkeit fordert, muss man auch für Leistungsgerechtigkeit einstehen. Und das ist immer sozialdemokratische Tradition gewesen: fairer Ausgleich und die Menschen mitnehmen. Für mich gibt es in der Partei aber mittlerweile ein sehr starkes Missverhältnis. Wirtschaft und Mittelstand kommen in der SPD nun überhaupt nicht mehr vor – das ist eine erschreckende Entwicklung. Ich verlasse die SPD nicht aus einem Affekt, sondern wegen der traurigen Feststellung, dass für Menschen wie mich kein Platz mehr in dieser Partei ist.“ Deshalb gibt Harald Christ nach 32 Jahren Mitgliedschaft sein Parteibuch ab.

Ob der Stern der neuen Spitze Esken/Walter-Borjans genauso schnell verglüht, wie der von der einstigen Lichtgestalt Martin Schulz oder der glücklosen Andrea Nahles, bleibt abzuwarten. Ein „Weiter wie bisher!“ hätte den schleichenden Tod der Partei vermutlich weiter vorangetrieben. Von daher bieten die neue Konstellation an der Spitze und der Linkskurs durchaus auch Möglichkeiten, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Klar ist aber auch, dass es eine der letzten Chancen für die SPD ist, zu alter Stärke zurückzufinden.