4. Januar 2020 | Gut Leben am Morstein – Westhofen

Gemeinhin hat es der Russe nicht leicht. Die Klischees sind mannigfaltig und fallen meist nicht zu seinen Gunsten aus. Glaubt man zudem der Politik, dann ist der Russe die größte Bedrohung der freien Welt seit der Erfindung von Darth Vader. Aber Gott sei Dank gibt es Wladimir Kaminer!

Mit seinem russischen Zungenschlag, der bei ihm schon fast den mediterranen Charme eines südländischen Charmeurs entfaltet, war es ihm auch bei seinem zweiten Auftritt im Gewölbekeller von Gut Leben am Morstein ein Leichtes, das Publikum bereits nach wenigen Minuten auf der Bühne für sich zu gewinnen. In diesem Sinne ist Kaminer, der angibt, privat Russe und beruflich deutscher Schriftsteller zu sein, der beste Botschafter, den sich sein Namensvetter Wladimir Putin jenseits der russischen Grenzen vorstellen kann. Wobei im Laufe des Abends deutlich wurde, dass der Wahlberliner keine allzu hohe Meinung von der russischen Politikergilde hat. Mitgebracht hatte er zu seiner Lesung sein neuestes Buch „Liebeserklärung“. Doch wer bei Kaminer eine gewöhnliche Lesung erwartete, sah sich mit einem Autor konfrontiert, der sich lieber Querbeet durch alte und neue Texte las. Und davon gibt es reichlich. Alleine bei Wikipedia werden 28 Veröffentlichungen in 18 Jahren genannt. Obwohl er von sich sagt, ein langsamer Schreiber zu sein, scheint der sympathische Russe in seinen Texten so ziemlich jedes Erlebnis zu verarbeiten. Im wortgewitzten Plauderton verschlug es ihn zuerst zu einer „Kreuzfahrt“, über die er ebenso schrieb wie über seine beiden Kinder, denen er sich vor allem in der zweiten Hälfte widmete („Ich schreibe 2020 über erwachsene Kinder und Eltern, die immer kindischer werden!“). Sein Hang, privates anekdotenhaft zu verarbeiten, begründete er dann damit: „Egal, was für Romane Sie sich ausdenken, das Leben setzt immer eins drauf“ oder wie die Tochter es sagt: „Das Leben hat immer ein `Fick`Dich! in der Tasche“.

Fazit: Kaminers Markenzeichen ist sein trockener Humor, gepaart mit dieser einmaligen Vortragsweise. Doch der Russe überraschte auch mit ernsten Tönen, so z.B. als er Russlands Zerrissenheit mit dem eigenen Umgang der Geschichte sezierte. Kurzum, ein großartiger Abend.